Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

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Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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(31.10.2017).

      Kimmich, Dorothee und Alexander Thumfart (2003). ›Einleitung‹, in: Dorothee Kimmich und Alexander Thumfart (Hrsg.). Universität ohne Zukunft? Beiträge zu einer aktuellen Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Koschorke, Albrecht (2015). ›Die Germanistik auf dem Weg zum kleinen Fach.‹ DVjs 89.4, 587–594.

      2 Literatur, Wahrheit, Menschsein

      John K. Noyes (übersetzt von Lukas Müsel)

      Die Literatur ist ein Laboratorium, das die Idee eines gemeinsamen Menschseins entwickeln und in Beziehung zu Vielfalt und Differenz setzen soll. In beiden Fällen handelt es sich um nicht ganz klar umrissene, veränderbare Konzepte. ›Menschsein‹ ist eine Abstraktion, die auf unterschiedlichste Art und Weise erreicht werden kann (meistens dadurch, dass jegliche Vielfalt negiert wird); Vielfalt selbst ist eine scheinbar unendliche Spezifizierung bestimmter Erscheinungen. Die Dialektik von Gleichheit und Unterschiedlichkeit, die das literarische Labor antreibt, wohnt der literarischen Form strukturell inne. Die lyrische Stimme ist gänzlich erfüllt vom Reiz des Klanges, der beständig zwischen einem Bereich innerhalb der Bildlichkeit und einem Ort jenseits ihrer Grenzen hin und her pendelt. Die dramatische Aufführung funktioniert über ein Momentum der Identifikation, durch das spezifische Gesten und Äußerungen der Schauspieler erst Bedeutung erlangen. Der Roman, in seiner klassischen Form, lebt von den Spannungen zwischen verschiedenen universalen narrativen Strukturen (wie beispielsweise dem allwissenden Erzähler) und den Stimmen oder berichteten Gedanken der individuellen Figuren. All diese narratologischen und poetischen Mittel erlauben es uns, von einer ästhetischen Erscheinung zu sprechen, die sich durch die fundamentale Unsicherheit eines gemeinsamen Menschseins in der Moderne auszeichnet. Vielleicht entstand und besteht Literatur aufgrund genau dieser Ungewissheit.

      Im Westen sind ›gemeinsame Menschlichkeit‹ und ›Vielfalt‹ Konzepte, die sich – wie auch immer sie verstanden werden mögen – durch die langzeitige Parallelentwicklung von säkularem Weltbürgertum und christlicher Mythologie entwickelten. Das heutige Problem von Menschlichkeit und Vielfalt entstand aus einer kürzeren (aber dennoch jahrhundertelangen) Geschichte, die zunächst von Europa und später von den Vereinigten Staaten dominiert wurde – eine Geschichte der Säkularisierung, der Technologie und der Expansion des Kapitals. Literatur wie wir sie heute verstehen – mit all ihren Wachstumsschüben, Verzögerungen; mit ihrer Selbstbezüglichkeit, ihren Kontextualisierungen und historischen Schwachpunkten – entwickelte sich parallel zu dieser langen Geschichte. Da das Konzept eines gemeinsamen Menschseins zunehmend in den Einflussbereich der Weltwirtschaft und der Finanzialisierung des Lebens rückte, gerieten Konzeptualisierungsversuche von Gleichheit und Ungleichheit in Widerstreit mit der Homogenisierung des Lebens, die dieses globale System hervorruft. Die immer wieder hart geführten Kämpfe um die Relevanz und das Fortbestehen der Literatur (und die institutionellen Strukturen, die sie unterhält) sind in sich selbst Ausdruck eines formalen Auswegs; einer Flucht vor dem, was wechselweise das verwaltete Leben, die Systematisierung des Lebens, die Instrumentalisierung des Lebens, etc. genannt worden ist. Dass die Formen einer solchen Flucht vielleicht mit einem fortwährenden Wettrennen um nicht börsenfähige Innovationen einhergehen, ist nicht überraschend; genauso wenig ist es überraschend, dass dies ein Rennen ist, dessen Sieger nur rundenweise bestimmt werden können – denn der Wettbewerb selbst kann nicht gewonnen werden.

      Aus diesem Blickwinkel gesehen, verbindet die offizielle Institution der Literatur und ihre institutionalisierte Analyse eine interessante Beziehung. Während Beobachtung, Interpretation und Kommentar methodologische Grundpfeiler einer Vielzahl an Disziplinen sind (sowohl in den Geisteswissenschaften wie auch in den Naturwissenschaften), ist die sture Verweigerung, Erkenntnis als finanzfähig zu erweisen, genau das, was die ›eigentliche Literaturwissenschaft‹ bestens beschreibt. Ich sage ›eigentliche Literaturwissenschaft‹, weil es durchaus auch einige institutionelle Formen der Literaturanalyse gibt, die so hart wie möglich darum kämpfen, ihren eigenen Wert auf eben der Skala der Naturwissenschaftler zu messen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderwürdigkeit der ›Digital Humanities‹. Die ›eigentliche Literaturwissenschaft‹ ist, sollte sie mit den Naturwissenschaften verglichen werden, eine Art Grundlagenforschung. Sie schlägt Modelle und Methoden vor, deren Ergebnisse ungewiss, unvorhersagbar und in den meisten Fällen finanziell wertlos sind. Die institutionalisierten Modelle und Mechanismen, die der Literaturanalyse geldwirtschaftlichen oder (eher) finanziellen Wert zuweisen, werden immer ausgeklügelter – und die Lebensdauer dieser Disziplin ist immer mehr abhängig von der Ausgeklügeltheit dieser Modelle und Mechanismen. Es mag sein, dass die Anzahl an Studierenden gering ist und es gemessen daran verhältnismäßig viele Dozenten gibt. Wenn es aber irgendetwas an dieser Struktur, an dem Status oder dem Betrieb literaturwissenschaftlicher Institute gibt, was die Wahrnehmung der gesamten Institution in den Augen ihrer Geldgeber oder bezahlender Studierender verbessert, wird das natürlich den finanziellen Wert des Literaturunterrichts fundamental verändern. Wenn auf eine ähnliche Weise Verlage und Verwalter den Wert von zuvor nicht marktfähigen theoretischen und thematischen Trends sehen, verändert sich die interne Konfiguration literarischer Spezialisierung (siehe zum Beispiel das Wachstum der Postcolonial Studies); auch wenn im Vergleich zu den Naturwissenschaften – und ungeachtet der zunehmenden Verschmelzung nationaler literaturwissenschaftlicher Seminare zu literaturwissenschaftlichen Seminaren, Fakultäten für Europastudien und dergleichen mehr – die fachliche Struktur von literaturwissenschaftlichen Fakultäten bemerkenswert schwer zu ändern ist. Es lohnt sich jedoch, über die in einem solchen Prozess entstehende Dynamik der Differenzierung nachzudenken. Wie sollte Literatur im Vergleich zu anderen ›Diskursen der Wahrheit‹ platziert werden, die scheinbar mit mehr Berechtigung in Hochschulen eingebettet sind, da die Wahrheiten, mit denen sie sich beschäftigen, offenbar eine offensichtlichere, effektivere und profitablere Beziehung zur Welt als ganzer haben?

      Um uns einer Antwort auf diese Frage zu nähern, müssen wir schauen, was mit der Wahrheit über die vergangenen Jahrhunderte geschehen ist. Es gab eine Zeit – und so lang ist das noch gar nicht her – zu der es schien als wäre der Streit über die Wahrheit gewonnen: als europäische Akademiker sie den Händen der Kirche entrissen – und das obwohl ihre Philosophie noch nicht die Kontrolle über die Theologie erlangt hatte. Während dieses Kampfes dachte man einige Zeit, dass die Frage ›Was ist menschlich?‹ gleichermaßen von der Philosophie und von der Theologie beantwortet werden könne. Diese Zeit ist vorbei; die Kirche verlor die erste Runde des Kampfes und die Philosophie verlor die zweite Runde. Doch für die Philosophie, so erinnert uns Adorno zu Beginn der Negativen Dialektik (1966), erwies sich der Verlust der Wahrheit als großer Gewinn, da er ihr das Überleben sicherte. Adorno vertritt die Ansicht, dass die Philosophie noch immer von großer Bedeutung ist; gerade weil sie ihren großen Versprechungen nicht nachkommen konnte, die Gesamtheit des Lebens zu begreifen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Verteidigung die Philosophie wieder zurück zu der konstitutiven Rolle führt, die Adorno (und Kant vor ihm) gehofft hatten, ihr darin zusprechen zu können, dass sie die Welt zu einem besseren Ort macht. Stattdessen scheint die Philosophie in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, als wäre sie ›fake news‹. Jeder kann Philosophie betreiben, wenn er einen Verlag zum Publizieren findet. Und in der akademischen Welt wurde der feste Griff, mit dem sie die Wahrheit zu umklammern schien von der Technologie gelöst: von der Berechenbarkeit und Modellierbarkeit einer Welt, die nach den Modellen und Berechnungen der jeweiligen Wissenschaft überhaupt erst zustande kommen kann. Infolgedessen wendet sich die Philosophie auf sich selbst; wie ein schmollendes Kind erzählt sie sich selbst Geschichten über die Spielzeuge, mit denen sie nicht spielen darf. Was ist also der Sinn von Philosophie, die wieder und wieder die Geschichte ihres Versagens erzählt, die Gesamtheit des Lebens zu erfassen? Und was hat das mit Literatur zu tun? Diese Frage kann am besten mit zwei Behauptungen angegangen werden:

      1 Es ist richtig zu sagen, dass die Welt, in der wir leben, durch die Technik, die in den letzten paar Jahrhunderten entwickelt wurde, geprägt ist. Aber es ist

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