Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов страница 11

Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

Скачать книгу

wird, die wir uns kollektiv und individuell, bewusst und unbewusst, erzählen. Literatur ist der Diskurs dessen, was man vielleicht das historische oder das politische Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen nennen könnte: die Geschichten, die versuchen den Menschen als Ganzes zu verstehen und die all die Handlungen, Erscheinungen und Gedanken erforschen, bei denen der Mensch an seine Grenzen stößt.

      2 In den unterschiedlichen Disziplinen leben wir mit unterschiedlichen Vergangenheiten. Aus der Perspektive der Philosophie ist die Vergangenheit nicht auf die gleiche Weise Vergangenheit, wie sie es für die Geschichte der Naturwissenschaft oder der Technologie ist. Technologie macht vergangene Träume wahr. Sie tut dies dadurch, dass sie vergangene Einsichten in sich aufnimmt, um dadurch zu verbessern was zweckmäßig ist und um zu verwerfen, was nicht länger nützlich ist. Literatur funktioniert anders – sie hinterfragt die Idee von Fortschritt als unverkennbares Kennzeichen menschlicher Geschichte. Sie tut dies dadurch, dass sie eine im Fortschrittsdenken der Technologie nicht mehr relevante Vergangenheit neu belebt. Sie tut dies durch Strategien der Darstellung, die historische Zeit negieren, zum Beispiel dadurch, dass die Zukunft beschrieben wird, als wäre sie schon da, oder die Vergangenheit, als wäre sie noch nicht vergangen; dadurch, dass sie Stimmen hervorruft, die weder vergangen noch zukünftig sind, sondern einer ständigen Gegenwart innewohnen. Die so außer Kraft gesetzte wissenschaftliche Zeit ist ein kritisches Momentum – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne des Wortes. Es nähert sich den Naturwissenschaften mit einer gewissen Abneigung – aber es zieht den diskursiv angelegten wissenschaftlichen Wahrheitsbehauptungen gleichzeitig die Maske vom Gesicht und zeigt durch die in der Literatur aufgerufenen alternativen Realitäten, dass wissenschaftliche Zeit nicht die einzige Form von Zeitlichkeit ist.

      Wenn Literatur das Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen ist, dann ist es möglich, über die Verwirklichung und Verdrängung ihrer Träume durch die Wissenschaft und die Technologie zu sprechen. Seit Ikarus hat der Mensch davon geträumt zu fliegen. Wir sind mittlerweile seit ungefähr 100 Jahren in der Lage das zu tun – und wir werden immer besser darin. Vögel können uns nicht mehr das Wasser reichen. Wir können uns selbst darin beglückwünschen und behaupten, dass wir einen beinahe vorzeitlichen Traum wahrgemacht haben. Aber damit nicht genug – inwiefern beeinflusst die Realisierung dieses Traums andere Träume? Fliegen wäre unmöglich ohne revolutionäre Erfindungen und Weiterentwicklungen von Materialien wie beispielsweise Metall und Plastik. Welche sozialen, politischen und ideellen Umstände haben diese Revolutionen ermöglicht? Was haben wir gewonnen und verloren, wenn wir die technologischen Fortschrittsträume mit den Momenten vergleichen, in denen dieser Fortschritt tatsächlich Wirklichkeit wird? Und wie befördert die Verwirklichung dieser Träume die Produktion anderer Träume, die wiederrum realisiert werden wollen? Telekommunikation ist ein weiteres Beispiel – was bedeutet die Verwirklichung des Sechzigerjahre-Traums, mit einem Abbild des Gesichts einer anderen Person auf der entgegengesetzten Seite des Globus sprechen zu können? Zwei Dinge werden offenbar, wenn wir versuchen diese Fragen zu beantworten:

      Erstens erinnert die Literatur die Wissenschaften und die Technologien daran, dass wir beide nicht fragen können, wenn wir wissen wollen, ob die Erfindungen, die sie hervorgebracht haben, die Vergangenheit verbessert haben. Die Gewinne und die Verluste können nicht einfach nur in der Technologie aufgewogen werden. In der konzeptuellen Sprache der Technologie – und ich wage zu behaupten, dass das ein Axiom der Technologie ist – gibt es eine Art darwinistischer Ausgrenzung ineffektiver Veränderungen, so dass Veränderung immer positiv ist. Sobald ein Traum wahr geworden ist, kann damit abgeschlossen werden. Die Literatur dagegen wälzt sich weiterhin jede Nacht schlaflos im Bett; wollüstig in ihren feuchten Träumen oder gequält in ihren Alpträumen.

      Zweitens können die Gewinne und Verluste nicht auf der Skala einer gemeinsamen Menschheit abgemessen werden, da die wissenschaftliche oder technologische Idee eines solchen universalen Menschseins davon abhängt, die Differenzen, die durch Wissenschaft oder Technologie herbeigeführt wurden, zu verwischen. Die Menschheit, die von wissenschaftlichem oder technologischem Fortschritt profitiert, ist nicht die gleiche, die von der Literatur abstrahiert werden kann. Die literarische Menschheit negiert die individuelle Stimme, die individuelle Geste, während die wissenschaftliche Menschheit die Geographie der Produktion negiert. Die Menschheit sieht für den Besitzer eines IPhones 7 bedeutend anders aus als für die Person, die in der Demokratischen Republik Kongo unter der strengen Kontrolle bewaffneter Aufseher mit nackten Händen Coltan abbaut.

      Genau dieser Kampf zwischen dem wissenschaftlich geformten Menschen und dem literarischen Menschen trifft den Kern der europäischen Aufklärung. Intellektuelle Aufklärer hatten den Traum, dass alle Menschen Wohlstand und Fortschritt in einem gerechten Weltsystem teilen, in dem alle Individuen ihr gesamtes Potential frei entfalten können. Die Literatur unterstützte die Überzeugung einer solchen Gleichheit indem sie die gemeinsame Menschheit als das Fundament aller menschlichen Vielfalt zeigte. Sie meinte das wirklich ernst! Während wir die technologischen Träume der Vergangenheit überaus erfolgreich verwirklichen konnten, haben wir abgrundtief darin versagt, diesen Traum von Gleichheit zu realisieren. Warum? Es war nicht unvermeidlich, dass wir das eine schaffen und das andere nicht. Dafür gibt es, so glaube ich, drei Gründe:

      1 Die Aufklärung knüpfte die Frage nach Menschlichkeit unabdingbar an die Säkularisierung der Wahrheit. Das ermöglichte der Philosophie, ihre holistischen Perspektive auf die Menschheit zu verwerfen. Die Säkularisierung der Wahrheit bedeutete, dass der Mensch zunehmend weniger durch die Augen Gottes gesehen wurde und stattdessen mehr und mehr durch Modelle, die eine solche göttliche Einsicht ersetzten. Der Blick Gottes wurde nicht nur getrübt, sondern seine Augen zerfielen in tausende kleiner Augen, wie die Facettenaugen der Insekten, aber ohne das Nervensystem, das es ihnen ermöglicht hätte, ein einheitliches Bild zu kreieren oder einen Reiz zu senden, der einheitliche Handlungen hervorruft.

      2 Die Modernisierungen in den sozialen, politischen und ökonomischen Bereichen bewirkten einen solch rapiden Umbruch, dass Fragen der Gleichheit von der Unfähigkeit politischer Systeme, Änderungen in anderen Bereichen zu koordinieren, unterminiert wurden.

      3 Die entstehende Weltwirtschaft zwang Philosophen dazu, jegliche Fragen bezüglich Menschheit in den Kontext kultureller Differenz zu setzen und Austauschpraktiken jeglicher Form zu homogenisieren. Die Homogenisierung des Handels verbreitete Theorien darüber, wie der Handelsverkehr kulturelle Ungleichheiten ausgleichen und damit den Menschen als das Wesen hervorbringen könnte, dessen Wünsche und Bedürfnisse überall gleich sind.

      Wenn wissenschaftliche Wahrheitsdiskurse beständig in der teleologischen Produktion von den Wahrheiten gefangen sind, die sie selbst formen, und die Philosophie immer einen Schritt hinter dem zurück ist, was die Wissenschaft kreiert hat, was ist dann mit der Literatur? Bei jedem Schritt schaute die Literatur überrascht, fasziniert und bestürzt zu, wie der Versuch den Menschen zu verstehen nach und nach in den Händen zerrann. Eine Geschichte der Literatur, die diesen Prozess verfolgt und die kontinuierliche Destabilisierung des Menschen als das, was aus ihm geworden ist, festhält, muss erst noch geschrieben werden

      Literatur hebt den teleologischen Pakt wissenschaftlicher Wissensdiskurse mit der Technologie auf, indem sie mit der Philosophie kommuniziert. Wenn Philosophie mit der Literatur spricht, nennt man das Theorie; den Metadiskurs über literarische Texte. Es gibt einen Grund dafür warum dieser Dialog in Deutschland Literaturwissenschaft genannt wird. Gleich der Wissenschaft legt sie ein Wahrheitsgelübde ab – aber ungleich der Wissenschaft ergeht sich dieses Gelübde nicht in technologischen Veränderungen der Welt. Stattdessen hält sie die Wahrheit auf Distanz; destabilisiert sie durch die inhärenten Spannungen zwischen der Allgemeingültigkeit ihrer einen menschlichen Stimme und der Partikularität ihrer vielen menschlichen Stimmen. Man kann sich Literatur nicht ohne diese Destabilisierung der Wahrheit vorstellen.

      Bei Literatur und Literaturwissenschaft aktiviert die Frage nach einer gemeinsamen Menschlichkeit und menschlicher Vielfalt einen wechselseitigen Dialog zwischen Philosophie und Ästhetik (die Lehre der Ausdrucksform). Die philosophische Frage ›was

Скачать книгу