Bildung und Glück. Micha Brumlik
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Nietzsche beerbt Kant in systematischer Hinsicht darin, daß er – wie anfangs angedeutet – Kants Lehre vom Menschen als des Menschen Zweck in normativer Hinsicht aufgibt, in explanativer Hinsicht jedoch radikalisiert und damit alle bisherige Anthropologie auf den Kopf stellt. Indem Nietzsche eine Philosophie am „Leitfaden des Leibes“ fordert und damit die bisherige Verankerung des Selbst aus dem eng umgrenzten Bezirk des Bewußtseins löst, visiert er eine Perspektive an, in der das Geistige nur noch als die Zeichensprache des Leibes gilt. Das Streben nach Glück, das sich in dieser Perspektive auslegt, erweist sich dann als das dem Bewußtsein oftmals unzugängliche Streben des Leibes nach Höherbildung, einer Höherbildung, die nicht mehr moralischen, sondern nur noch ästhetischen Kriterien folgt. Auch auf diesem Weg folgt Key ihrem Lehrer Nietzsche: „Die neue Sittlichkeit […] nimmt Humanismus wie Evolutionismus in sich auf. Sie ist von dem monistischen Glauben an Seele und Körper als zwei Formen desselben Seins bestimmt; von der Überzeugung des Evolutionismus, daß das psycho-physische Wesen des Menschen weder gefallen noch vollkommen, doch der Vervollkommnung fähig ist: daß es bildbar ist, gerade weil es konstitutiv noch nicht fertig ist.“36
Key hatte – anders als Nietzsche – einen scharfen Blick für die intersubjektivitätsbezogenen Komponenten der menschlichen Leiblichkeit, sprich für Sexualität und Erotik. Sie hatte erkannt, daß Nietzsche von der Liebe nichts wußte, „weil er vom Weibe nichts weiß“,37 und war bemüht, seine ihrer Auffassung nach zureichende Theorie der Elternschaft und ihrer Bedeutung durch eine Theorie der Erotik zu ergänzen, die durch verantwortungsvolle Elternschaft jenseits aller konventionellen Moral und eugenische Umsicht zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen wird. An dieser Schnittstelle konvergieren dann die beiden scheinbar widersprüchlichen Imperative individuellen Lebensglücks und gattungsbezogener Höherentwicklung und schießen zu einem neuen Glauben, einer diesseitigen Liebesreligion zusammen: „Die Bekenner dieses Glaubens wollen die geschlechtlichen Gefühle und Handlungen des einzelnen durch die Liebe bestimmen, vor allem weil sie glauben, daß das Glück des einzelnen die wesentlichste Bedingung auch für die Lebenssteigerung der Menschheit ist. Sie wollen die Erde mit Glückshungernden erfüllen, weil sie wissen, daß nur so das Erdenleben seinen innersten Willen erreicht, nämlich – in einem ganz neuen Sinne – Ewigkeitsmenschen zu bilden. Das Wort, das durch Eros Fleisch und Blut wurde und in uns lebt, ist das tiefste von allen: ‚Freude ist Vollkommenheit.‘ Wenn wir in diesem Wort Spinozas die höchste Offenbarung vom Sinn des Lebens empfangen, öffnet sich der Blick auch für den Zusammenhang des Daseins. Wir sehen ein, daß das vollkommenere Geschlecht im vollsten Sinn des Wortes hervorgeliebt wird.“38
Der Wille des Erdenlebens – Key präzisiert nicht, ob darunter nur das menschliche Leben zu verstehen sei – bestehe darin, „Ewig- keitsmenschen“ zu bilden, womit Nietzsches radikaler Modernismus mit seinem Glauben an die konstitutive, willkürliche Offenheit des Menschen aufgegeben und einer naturwissenschaftlich erweiterten Form des antiken Perfektionismus das Wort geredet wird. Allen Erschütterungen der Moderne zum Trotz gewinnt der Kosmos hier im ganzen nun wieder genau den Sinn, den er in der griechischen und biblischen Religion auch schon hatte. Obwohl es Key gelingt, die vermeintliche Widersprüchlichkeit von individuellem Glücksanspruch und gattungsbezogener Höherbildung zu überwinden, bleibt die Kluft zwischen zwei axiologischen Prinzipien, dem individuellen Glück und dem Selbstwert des Neuen, bestehen. Diese Spannung sollte ihren Niederschlag dort finden, wo nietzscheanische und dar- winistische Gedanken eine radikal emanzipatorische Politik instrumentierten – ein Einsatz, der heute kaum noch nachzuvollziehen ist.
Die systematische Wiederaufnahme der Kategorie des Eigen- interesses aber führt gegenwärtig auf der Linie von Aristoteles zu Rousseau direkt zur Neuformulierung einer Ethik der Tugenden39 Der Verdacht, daß diese Renaissance sowohl in der Sache als auch in der Wahl ihrer Begriffe zu Regressionen führt, scheint dabei nicht unbegründet40 „Tugend“ – dieser Begriff weckt einerseits unangenehme Erinnerungen an eine muffige Sexualmoral und provoziert andererseits aufgeklärte Distanz zu einem schönheitstrunkenen Übermenschentum. „Tugenden“ – das scheinen Charaktereigenschaften zu sein, die als Gewissen in erzwungene Jungfräulichkeit oder als „virtú“41 in selbstsüchtiges Haschen nach Ruhm münden. Diese Assoziationen treffen zu und verfehlen doch die Sache, um die es geht.
Um den Mißkredit, in den die Tugenden und ihre Theorie geraten sind, richtig zu verstehen, ist es unerläßlich, jene Zeit in den Blick zu nehmen, als sie erstmals veraltet schienen. Dieses Veralten hat seinen Ausdruck nicht zufällig in einer Kunstform gefunden, die wie keine andere der Artikulation der Leidenschaft dient – der Oper. Ihre Geschichte beginnt mit Jacopo Peris inzwischen verlorengegangener „Dafne“, die vor mehr als vierhundert Jahren 1597/98 in Florenz uraufgeführt wurde und dem Zweck diente, eine zeitgemäße Wiedergeburt der antiken Tragödie in der Sprache der Musik zu inszenieren. Mit dem musikalischen Werk des Mantovaner Hofmusikers Claudio Monteverdi erreichte die Gattung gleich zu Beginn ihren ersten Höhepunkt und zeichnete die Linien für alle künftige Entwicklung vor. Seither kreist die Oper um zwei Themenbereiche, um Liebe und Politik42 In der im Jahr 1607 uraufgeführten Oper „Orfeo“ nimmt sich Monteverdi des Mythos von der den Tod überwinden wollenden, aber darin scheiternden Liebe an, während die 1643 uraufgeführte „Krönung der Poppäa“ Liebe und Leidenschaft als Instrumente zur Erhaltung und Sicherung von Macht zeigt. Der Prolog zu dieser Oper besteht aus einem Dialog zwischen fortuna, virtu und amore, zwischen Glück, Tugend und Liebe.
„Deh, nasconditi o virtu, gia caduta in poverta“ – „Ach verbirg dich o Tugend“, hält die Allegorie des Glücks der Tugend entgegen, „die du längst in Armut gefallen bist, Gottheit, an die keiner glaubt, Gottheit ohne Tempel, Gottheit ohne Gläubige und Altäre, davongejagt, unzeitgemäß, verabscheut, unerwünscht“ – „…dissipata, dis- susata, aborrita, mal gradita.“ Die Tugend beschimpft in ihrer Antwort das Glück, jenes niedriggeborene, vor allem den Dummen holde Wesen, um sich selbst als ein reines unbestechliches Wesen zu preisen, das Gott vergleichbar sei. Beider Konkurrenz wird schließlich durch den Machtspruch des Gotts der Liebe, Amors, geschlichtet, der beide zu besiegen ankündigt und darauf wettet, daß die Welt allein durch seinen Wink verändert werde. Der Tugend, so wie sie in Monteverdis Oper auftritt, eignet von Anfang an ein belehrendes, pädagogisches Element: „Io sogn la tramontana, che sola insegno agl’intelletti humani l’arte del navigar verso l’Olimpo“ – „Ich allein bin der Nordwind, der den menschlichen Geist die Kunst lehrt, zum Olymp zu schiffen.“
Die „Tugend“ – handelt es sich bei ihr um eine Größe, die schon vor 350 Jahren in der norditalienischen Renaissance in ihrem unheilbaren Pädagogisieren als veraltet gelten mußte? Von welcher Art der Tugend ist in Monteverdis Oper die Rede? Die Tugend, die hier im Wettstreit mit Glück und Liebe unterliegt, repräsentiert eine bestimmte, stoische Ausprägung des Tugendbegriffs. Die Stoa ist eine der fünf auf Sokrates, Platon und Aristoteles folgenden philosophischen Positionen der späteren Antike: Skepsis, Atomismus, Epikuräismus, Kynismus und eben Stoizismus stellen sich der zentralen Frage griechischen Philosophierens,43 der Frage nach dem richtigen Leben als der Frage nach der Möglichkeit des Glücks.44 Diese Frage, die sich ebenso wie die Frage nach der Metaphysik nicht in der biblischen, der jüdischen und christlichen Tradition findet, spürt den Lebensmöglichkeiten des Individuums nach und geht – wiederum im Unterschied zur biblischen Tradition – im Grundsatz davon aus, daß es den Menschen wesentlich selbst gegeben ist, ihr Leben zu gestalten. Wo die biblische Tradition sich wesentlich der Frage des Unglücks und damit der Frage der Theodizee zuwendet, stellt die antike Tradition die Frage nach einer Anthropodizee des Glücks in ihr Zentrum. Sie beginnt dabei mit metaphysischen Annahmen, mit Annahmen