Bildung und Glück. Micha Brumlik
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Die klassischen Tugendlehren stellten einen internen Zusammenhang zwischen Tugenden und Glück her – läßt sich eine entsprechende Symmetrie auch negativ bestätigen, so daß Laster und Unglück intern aufeinander bezogen sind? Wer tugendhaft lebt, kann ein mindestens gelungenes, wenn nicht gutes Leben führen, nicht aber führt jemand, der aufgrund unverschuldeter Umstände seinen Lebenszielen nicht nachkommen kann und daher Unglück erfährt, damit schon ein schlechtes, ein falsches Leben. Personen jedoch, die, ohne dies stets zu wollen, Maximen nachgehen, die ihnen immer wieder die Verletzung ihrer Selbstachtung auferlegen, verfehlen ihr Leben in zweierlei Hinsicht: Weder haben sie achtenswerte Ziele ausgebildet, noch setzen sie diese schon ohnehin wenig achtenswerten Ziele mit achtbaren Mitteln um. An dieser Stelle kann keine Phänomenologie des Lasters entworfen werden, das in einer sozialwissenschaftlich reflektierten Semantik eventuell mit Begriffen wie „Sucht“8 oder „Neurose“9 als Erfahrungen der Unfreiheit zu erläutern wäre. Mit dem Begriff „verächtlicher Lebensziele“ und „-strategien“ ist jedoch eine Semantik gewonnen, die einerseits am Minimum einer normativen Theorie des richtigen Lebens festhält und gleichwohl flexibel genug ist, der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften gerecht zu werden. Denn „Achtung“ ist allemal – ganz unabhängig von ihren einzelnen Kriterien – stets an die Anerkennungsbereitschaft einer intersubjektiven Gemeinschaft gebunden. Das beinhaltet weniger als alles, was mit dem Begriff der „Sünde“ verbunden ist, und doch mehr als eine nur relativistische, skeptische Position auf akzeptierte Werthaltungen bezüglich der Lebensführung.
Ein auf den ersten Blick schwächerer Begriff von „Laster“ würde nicht einen Verstoß gegen die Selbstachtung, sondern gegen die „Selbstsorge“ hervorheben. Eine an letzterer orientierte Tugendethik hebt die „Wichtigkeit hervor, alle Praktiken und alle Übungen zu entwickeln, durch die man Kontrolle über sich bewahren und am Ende zu einem reinen Genuß seiner selbst gelangen kann“.10 Die damit angestrebte Kunst der Existenz, die im Erringen einer „Souveränität über sich selbst“ gipfelt, kann im Laster nur noch Souveränitätsverlust erkennen, ganz gleichgültig, ob Ziele und Mittel einem Konzept der Achtung entsprechen. In grundsätzlich denkbaren Gesellschaften, die derartige Prinzipien nicht kennen, scheint es auch keine Laster zu geben. Allerdings kennen alle Gesellschaften das Gefühl der Scham.11 Sich auf Dauer Neigungen zu überlassen, die von Dritten miß- oder verachtet werden, scheint der Erklärung dessen, was als „lasterhaft“ gilt, näher zu kommen. Autonome Persönlichkeiten mögen gleichwohl Neigungen anhängen, die von anderen verachtet werden, ohne sich selbst zu verachten. Von anderen als „lasterhaft“ bezeichnet zu werden, ist jedoch nicht das gleiche wie einzusehen, daß man einer selbst nicht akzeptierten Neigung anhängt, die die Grenzen des für akzeptabel gehaltenen Verhaltens verletzt und deshalb mit spontanen, immer wieder auftretenden Schamgefühlen verbunden ist. Ein Laster ist also jene charakterlich verankerte Neigung, der Personen regelmäßig aus mindestens ihrer Meinung nach freien Stücken anhängen, für die sie von Dritten verachtet werden und derentwegen sie sich selbst schämen. Anders als im Fall der Sünde entfällt jedoch das Element der Schuld, da das lasterhafte Verhalten oder Fühlen bei aller Freiheit als unausweichlich, notwendig und gleichwohl beschämend erfahren wird. Einem Laster anzuhängen wird daher als ebenso paradox wie beschämend erfahren. An diesem Element der nicht verfügbaren, spontanen Scham brechen sich übrigens auch Versuche, eine Theorie des gelungenen Lebens nicht auf dem Begriff der Autonomie, sondern auf dem Begriff der „Souveränität“ zu konstruieren. Dabei geht es nicht nur um Terminologie.
Daß eine Theorie des gelungenen Lebens, die ihr Kriterium nicht in der Achtung, sondern in der Souveränität findet, letzten Endes scheitern muß, davon zeugt das ebenso faszinierende wie phänomenologisch präzise moralphilosophische Werk des Marquis de Sade, der in immer neuen Versuchsanordnungen die faktische und auch theoretische Belastbarkeit aller Tugendbegriffe getestet hat. Es ist nicht erst den Autoren der Dialektik der Aufklärung aufgefallen, daß zwischen dem Werk Kants und dem de Sades eine interne sachliche Beziehung herrscht.12 Kants Versuch – so Adorno und Horkheimer –, wechselseitige Achtung vernünftig zu begründen, müsse scheitern, und auch eine Überlegung, von vernünftigen Einsichten auf moralische Gefühle umzustellen, müsse bei einem normativ unterbestimmten Naturalismus enden. Allerdings scheint de Sade selbst, der die Unzulänglichkeit einer naturalistischen Begründung der Moral nachweisen wollte,13 seiner eigenen Idee des souveränen, über alle moralischen Konventionen hinweggehenden Selbstgenusses nicht zu trauen. Denn auch die „Verdorbenheit“ will geübt sein, und so erweisen sich letztlich de Sades Szenarien als unendliche pädagogische Exerzitien, in denen es um wenig anderes geht als um das Verlernen konventioneller Moralvorstellungen: „Lassen wir uns nicht gar zu sehr von diesen unseren Herzensregungen für das Wohltun oder die Nächstenliebe, die uns mehr oder weniger von der Natur in unseren Herzen eingepflanzt, hinreißen. Habe ich nicht genug mit meinen eigenen zu tun, daß ich mich noch über diejenigen fremder Leute bekümmern oder betrüben sollte? Folgen wir lieber unseren Sinnesregungen, die ausschließlich auf unsere Vergnügungen und Genüsse hinzielen, gehorchen allein dieser Stimme unseres Herzens und lassen wir alle übrigen edlen Regungen aus dem Spiel. Freilich resultiert hieraus, ich meine … eine gewisse Grausamkeit, oder von Schlechtigkeit, die jedoch auch nicht immer ohne Süßigkeit und Wonne ist.“14
De Sades 1795 erschienene Philosophie im Boudoir kann als Versuch der Inversion von Rousseaus 1762 erschienenem Emile sowie den 1770 erschienenen Bekenntnissen gelten. Ebenso wie der Emile ist auch die Philosophie im Boudoir, formal gesehen, ein Erziehungsroman. Wo jedoch Rousseau auf die Beziehung eines Pädagogen und eines Zöglings setzt und diese pädagogische Beziehung als eine enterotisierte Beziehung zwischen zwei Personen männlichen Geschlechts faßt, läßt de Sade, dessen Roman vollständig Die Philosophie im Boudoir oder die lasterhaften Lehrmeister heißt, die pädagogische Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einer Reihe Erwachsener unterschiedlichen Geschlechts spielen. Rousseau war die Erfahrung des Lasters alles andere als fremd, in seinen Bekenntnissen berichtet er sowohl von masochistischen Neigungen15 als auch von exhibitionistischen Aktivitäten16. Die von ihm als hinderlich erlebten Neigungen führen ihn jedoch – anders als de Sade, der aus ihnen eine Pflicht machte – zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für sein Seelenleben, dessen Widersprüchlichkeit und Kontingenz er mit einer geradezu die Psychoanalyse vorwegnehmenden Genauigkeit registriert: „Wer würde zum Beispiel glauben, daß einer der kräftigsten Antriebe meiner Seele auf die gleiche Quelle zurückgeht, aus der Wollust und Sinnlichkeit in mein Blut geflossen sind.“17
Während Rousseau auf Selbst- und Fremdbeobachtung sowie ein Programm negativer Erziehung setzt, das dem Zögling zunehmende Autonomie ermöglichen soll, baut de Sade ganz und gar auf die Kraft der Verführung, auf eine ansprechbare Sinnlichkeit, die jede Tugend auslöschen würde: „Eines ist sicher“, so erklärt die Madame de Saint-Ange zu Beginn des Verführungs- und Initiationsdramas, „daß ich es an nichts fehlen lassen werde, sie zu verführen, moralisch und geistig zu verderben und in ihrem Herzen alle einfältigen und falschen Sittengrundsätze, mit denen man sie bisher verwirrt und dumm gemacht hat, zu töten. Ich will sie in zwei Tageslektionen ebenso geil und ausschweifend … ebenso gottlos … ebenso verbrecherisch machen, wie ich es selbst bin. – Benachrichtige Dolmance, setze ihn, sobald er hier ist, von allem genau in Kenntnis, damit das ganze Gift seiner perversen Anlagen und seiner Immoralität zugleich mit demjenigen, welches ich ihr einimpfen werde, in dieses junge Herz überströme und so in kurzer Zeit die gesamte Saat der Tugend, die sonst ohne uns in ihr keimen und gedeihen würde, mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde.“18