Bildung und Glück. Micha Brumlik
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Bildung und Glück - Micha Brumlik страница 19
Dieser Aspekt ist für eine Moraltheorie von besonderer Bedeutung, die sich auf wirkliche Menschen und nicht auf die von Utilitarismus und Kantianismus vorausgesetzten Fiktionen eines homo oeconomicus bzw. eines homo theologicus bezieht. Nachdem in der empirischen Moralforschung das kognitivistische Programm Lawrence Kohlbergs in vielen Hinsichten zusammengebrochen ist – sei es, daß die von ihm behauptete präkonventionelle Stufe bei Kindern kaum nachweisbar war, sei es bezüglich der kaum nachweisbaren motivationalen Kraft fortschreitender kognitiver Einsicht, sei es bezüglich der behaupteten Universalität der Stufen des moralischen Urteils –, treten Fragen nach moralischen Kontexten und Gefühlen wieder stärker in den Vordergrund. Dabei geht es nicht – wie man in der Kohlberg-Gilligan-Kontroverse meinen mochte – um die differentialpsychologische Frage, ob Frauen als biologische Wesen eine andere Moral haben. In dieser Hinsicht hatte Kohlberg recht – die Antwort konnte nur Nein lauten. Wohl aber geht es um die Frage, ob grundsätzlich unterschiedliche Moraltypen – solche, die Gerechtigkeit eher an vermeintlich unparteiliche, abstrakte Prinzipien binden, oder solche, die von wohlbegründeten, konkreten, unterschiedlich gewichteten Loyalitäten ausgehen – systematisch gleichwertig sind. Der systematische Vorrang eines bestimmten Verteilungsprinzips für alle Lebensbereiche – das hat nicht nur Michael Walzer86 gezeigt – läßt sich jedenfalls nicht begründen. „Wer Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit ablehnt, muß“, so Onora O’Neill, „anspruchsvollen Maßstäben gerecht werden; doch was diese Maßstäbe fordern, ist unweigerlich variabel und selektiv.“87
Was gerecht ist, erfährt in den Lebensbereichen von Politik und Öffentlichkeit eben eine ganz andere Bedeutung als in den von der systematischen – meist von Männern betriebenen – Philosophie ausgesparten Welten von Familie, Freundschaft und Liebe. Erst eine Theorie der Tugenden kann darüber Aufschluß geben, welche Formen von Wohlwollen, Mitleid, Einsicht und Pflichtbewußtsein, welches Amalgam moralischer Gefühle und Einsichten das „moralische Selbst“ von Menschen in ihrer ganzen Komplexität ausmachen.
Eine Theorie der Tugend vermag also speziell in der Pädagogik und der ihr entsprechenden Theorie moralischer Bildung im Unterschied zu den Reduktionismen von Kantianismus und Utilitarismus
•das Phänomen der Moral unverkürzt unter Einschluß der motivationalen Frage aufzunehmen;
•die Frage nach der sozialen Einbettung von Handlungsbereitschaften in auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Gemeinschaften zu thematisieren;
•die bisher übersehene Frage nach dem Eigeninteresse der Individuen und somit nach einer Bedingung ihres Glücks konstitutiv zu integrieren;
•der Komplexität und Disparatheit moralischen Fühlens und Denkens von Personen in der Spannung unterschiedlicher Sphären, aber eines von ihnen zu führenden Lebens, gerecht zu werden;
•umfassender und angemessener als bisher die Kooperation mit einer empirisch fortgeschrittenen, psychoanalytisch oder kognitivistisch verfahrenden Moralpsychologie aufzunehmen und damit den immer wieder eingeforderten Abschied von der Metaphysik abzuschließen.
Letzten Endes verbirgt sich hinter einer Theorie der Tugenden mit ihrer Betonung des Glücksanspruchs der Individuen jedoch nichts anderes als die alte materialistische Einsicht, daß umfassende Gerechtigkeit nur dann eintreten wird, wenn die Individuen sie als Teil ihres Glücks verstehen. Diese Einsicht muß nicht immer so grob daherkommen wie bei den von Brecht geschaffenen Charakteren Kalle und Ziffel: „Ich seh immer nur Handbücher“, hielt Ziffel seinem Freund Kalle vor, „mit denen man sich über Philosophie und die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man unten nur den Kant nicht kennte!“88
II.Skizze einer Theorie des Lasters
In systematischer Hinsicht bedarf eine Theorie der Tugenden, soll sie denn vollständig sein und auch in moraltheoretischer Hinsicht mit Kantianismus und Utilitarismus konkurrieren können, einer Begrifflichkeit, die eine wertende Auseinandersetzung mit unerwünschten Verhaltensweisen bzw. Charakterzügen ermöglicht.1 Dafür gibt die Tradition zwei Begriffe vor, nämlich den Begriff der „Sünde“ und den Begriff des „Lasters“. Der Begriff der Sünde ist in der jüdisch-christlichen Tradition wesentlich auf den moralischen Willen Gottes bzw. die Differenz zwischen dem allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott hier und dem sich entweder de facto oder notwendigerweise in seinen Handlungen, seinem Menschen- und Gottesbezug verfehlenden Menschen dort bezogen. Im mittelalterlichen Kanon der „Sieben Todsünden“2, des Stolzes (superbia), der Trägheit (acedia), der Begehrlichkeit (luxuria), des Zorns (ira), der Genußsucht (gula), des Neides (invidia) und des Geizes (avaritia), haben die Neigungen, gegen Gottes Willen zu verstoßen, konkrete Gestalt angenommen und stellen das direkte Negativ der Tugenden dar. Die zwischen Judentum, Katholizismus und Protestantismus wesentlichen Differenzen im Verständnis der „Sünde“, die auch dort, wo sie – etwa im Begriff der „Todsünde“ – an Konkretion gewinnen, ohne theologischen Bezug leer bleiben, spielen in einem anderen, einer Theorie der Tugenden angemesseneren Begriff keine Rolle mehr. Die auch noch in der christlichen Philosophie des Mittelalters weiterwirkende Tradition der klassischen Philosophie Platons und Aristoteles’ kennt allerdings noch keinen Begriff der Sünde, sondern „nur“ einen Begriff der kontingenten Verfehlung und menschlicher Mangelhaftigkeit. In dem Ausmaß, in dem das Gegenüber eines transzendenten Gottes nicht mehr als Kriterium für das Gelingen oder Verfehlen menschlichen Handelns fungierte, gewann ein Begriff an neuer Bedeutung, der bereits in den antiken Ethiken eine wesentliche Rolle spielte, der Begriff des „Lasters“.3
Die formale Deontologie Immanuel Kants, der zwischen ethischen und rechtlichen Pflichten ebenso unterscheidet wie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, versteht unter „Lastern“ grundsätzliche, zum Vorsatz gewordene Übertretungen von ethischen, unvollkommenen Pflichten. Als Beispiele für derartige Laster dienen ihm Lüge, Geiz und falsche Demut. Die Lüge gilt ihm als „Wegwerfung und gleichzeitig Vernichtung eigener Menschenwürde“.4 Im Lügen, so Kant, instrumentalisiert der Mensch sich selbst zu einer „Sprechmaschine“.5 Der Geiz als Laster wiederum besteht nicht nur im Entzug von Mitteln, die anderen zugute kommen könnten – sei es als Verletzung der Wohltätigkeit oder als Lieblosigkeit –, sondern vor allem darin, Pflichten gegen sich selbst zu verletzen. Die Eigentümlichkeit des Geizes liegt im Sammeln und Besitzen von Mitteln mit dem Vorbehalt, „keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegengesetzt ist.“6
Die „Kriecherei“ schließlich erscheint ihm als Steigerung der ohnehin überflüssigen, weil keiner Pflicht gemäßen Demut, die insgeheim von einem Impuls des Hochmuts getragen ist. Diese Haltung gezielt einzusetzen, anderer Gunst zu erringen, erweist sich zugleich als Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, nämlich der Selbstachtung als eines moralischen Wesens: „Aus unsrer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz […] muß unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts, nach welchem er für keinen