Maß- und Formänderungen infolge von Wärmebehandlung von Stählen. Karl Heeß
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Längenänderung von schlanken Stahlzylindern in Abhängigkeit von der Abschrecktemperatur (< Ac1), dem Kohlenstoffgehalt des Stahls und dem Abschreckmedium /Por27/
Der SFB 570 hatte diese Thematik aufgegriffen und dabei auch geringere Wärmeübergangskoeffizienten, wie sie bei der Abschreckung in Gasen resultieren, in die Untersuchungen mit einbezogen. In einer Vielzahl von Versuchen und Simulationen konnte gezeigt werden, dass eine dimensionslose Kenngröße, die nach dem französischen Physiker und Mathematiker Jean-Baptiste Biot (1774–1862) benannt ist, der Schlüssel zum Verständnis dieses Sachverhalts ist. Die aus der Thermodynamik bekannte Biot-Zahl berechnet sich als Verhältnis des Wärmeübergangs zur Wärmeleitung eines Körpers aus drei Parametern, die
den Prozess über den Wärmeübergangskoeffizienten α,
den Werkstoff über die Wärmeleitfähigkeit λ und
das Bauteil über eine charakteristische Länge – hier Durchmesser D
charakterisieren:
Gleichung (1)
Die Maßänderungen von umwandlungsfreien, langen Zylindern (Verhältnis von Länge zu Durchmesser > 3) infolge eines Abschreckprozesses sind nur vom Wert dieser Zahl und nicht von den Werten der drei Einzelgrößen abhängig /Fre05, Fre07/. In Bild 1.12 sind eine Vielzahl von Simulationen mit verschiedenen Kombinationen dieser drei Parameter zusammengefasst. Es zeigt sich dabei, dass unterhalb einer Mindest-Biot-Zahl von 0,4 keine Maßänderungen resultieren. Unter diesen Bedingungen treten ausschließlich elastische Verformungen auf. Bis zu einer Biot-Zahl von etwa 3,2 kommt es zu einer Bauteilverlängerung mit einer Verringerung des Durchmessers. Erst oberhalb dieses Wertes resultieren Maßänderungen, die der Ameen’schen Regel folgen.
Maßänderung von langen Zylindern aus dem austenitischen Stahl X8CrNiS 18–9 in Abhängigkeit der Biot-Zahl /Lüb12/
1.3.2.4 Einfluss der plastischen Dehnungen auf Maß- und Formänderungen
Was ist nun der Grund für diese Umkehrung des Maßänderungsverhaltens? Bild 1.13 zeigt für verschiedene Werte der Biot-Zahl die Verteilung der Axialkomponente des plastischen Dehnungstensors. Bis zur maximalen Längenänderung in Bild 1.12 überwiegen über den Querschnitt gesehen positive Werte dieser Größe. Danach nimmt der Querschnittsanteil mit negativen plastischen Dehnungen in Axialrichtung kontinuierlich zu und führt so zu der beobachteten Kontraktion der Länge oberhalb der genannten Biot-Zahl von 3,2. Die Eigenspannungen in Axialrichtung weisen den gleichen Trend auf: Hier steigt mit wachsender Biot-Zahl der Querschnittsanteil mit Zugspannungen in Axialrichtung.
Konturänderung mit zugehörigen Verteilungen von plastischer Dehnung und Eigenspannung in axialer Richtung für verschiedene Biot-Zahlen (gezeigt ist jeweils ein Viertel des Zylinderquerschnitts) /Lüb12/
Es ist zu beachten, dass die oben genannten Werte der Biot-Zahl von 0,4 bzw. 3,2 nur für den der Untersuchung zugrundeliegenden Werkstoff X8CrNiS18–9 gelten. Qualitativ sind aber für alle Werkstoffe, die keine Phasenumwandlungen während einer Wärmebehandlung aufweisen, ähnliche Abhängigkeiten zu erwarten. In /Fre07/ wurden Simulationen mit systematischen Parametervariationen durchgeführt, die den prinzipiellen Einfluss der einzelnen Größen zeigen. Dabei wurde gezeigt, dass insgesamt neben der Biot-Zahl lediglich fünf weitere dimensionslose Kennzahlen zur vollständigen Charakterisierung des Maßänderungsverhaltens von langen Zylindern ohne Phasenumwandlung benötig werden:
Gleichung (2)
V, O: | Volumen und Oberfläche der Zylinder |
αth: | thermischer Ausdehnungskoeffizient |
To, Tq: | Abschreck- und Badtemperatur |
ν, E: | elastisch Eigenschaften (Querkontraktionszahl und E-Modul) |
σ0, K, n: | plastische Eigenschaften (Streckgrenze und Parameter eines modifizierten Ramberg-Osgood Modells /Fre07/) |
Die Untersuchungen konnten allerdings die Funktionen f und g prinzipiell nicht vorhersagen. Ein erster Ansatz zu einer geschlossenen Beschreibung wurde von Landek entwickelt /Lan08/. Er benutzte gemittelte Materialparameter von 28 repräsentativ ausgewählten austenitischen Stählen und die zugehörigen Standardabweichungen für die Durchführung von Wärmebehandlungssimulationen. Die resultierenden Längenänderungen wurden durch ein nichtlineares Regressionsmodell mit den sechs dimensionslosen Kenngrößen als Parametern gefittet. Bild 1.14 zeigt den Vergleich zwischen Ergebnissen der Wärmebehandlungssimulation und dem Regressionsmodell. Die Übereinstimmung ist nicht perfekt, aber das Regressionsmodell bietet die Möglichkeit, die Längenänderungen abzuschätzen, wenn die Material- und Prozessparameter aus Gleichung 2 bekannt sind.
Gegenüberstellung der Längenänderungen von umwandlungsfreien Zylindern aus austenitischem Stahl berechnet mittels Wärmebehandlungssimulation bzw. mittels Regressionsmodell /Lan08/]
1.3.3 Maß- und Formänderungen durch Überlagerung von thermischen Spannungen und Umwandlungen
Im letzten Schritt des Gedankenexperiments muss bedacht werden, dass ein Härteprozess zwingend Phasenumwandlungen benötigt. Ferner gibt es klare Anforderungen an die lokalen Abkühlraten, wenn eine vorgegebene Gefügezusammensetzung eingestellt werden soll. Daher werden im allgemeinen Fall im Bauteil Temperaturgradienten und die zugehörigen thermischen Spannungen vorliegen, die von Phasenumwandlungen überlagert werden, die ihrerseits von der lokalen Abkühlkurve bestimmt werden. Im Gegensatz zur Situation aus Abschnitt 1.3.1 liegen hier Gradienten in der Phasenumwandlung vor, die zu Umwandlungsspannungen führen. Die Überlagerung der Spannungen aus diesen beiden Quellen führt zu einem komplexen zeitabhängigen Spannungsprofil im Bauteil. Die Maß- und Formänderungen ergeben sich dann aus den umwandlungsbedingten Dichteänderungen und den plastischen Deformationen, die während des Abschreckens aus Streckenüberschreitungen und Umwandlungsplastizität resultieren.
In Bild 1.15 /Srö84/ sind im oberen Bildteil drei hypothetische Abkühlverläufe für Rand und Kern eines Vollzylinders in ein charakteristisches ZTU-Diagramm eingetragen. Der untere Bildteil zeigt die zugehörigen berechneten Wärmespannungen (dünne Linien) und Gesamtspannungen (dicke Linien) für den Rand (durchgezogene Linien) und den Kern (gestrichelte Linien). Die Zeitintervalle mit plastischen Deformationen sind durch ein Raster unterlegt. Die Fälle a), b) und c) stellen typische Wechselwirkungen zwischen dem Abkühlprozess und dem Umwandlungsverhalten eines Stahls dar.