Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner

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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner Orbis Romanicus

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einer möglichst breiten Schnittmenge an Textmerkmalen verstehen, die sich insgesamt für das ,Essayistische‘ ermitteln ließen. Darüber hinaus nehmen sie innerhalb des Œuvre der beiden Autoren eine gesonderte Stellung ein.104 Doch essayistische Texte verweigern ohnehin jeden Charakter des Exemplarischen. Vielmehr, denke ich, sind sie innerhalb von Strukturen zu betrachten, die Walter Benjamin als „Konstellationen“ beschreibt: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Phänomene Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“105 Übertragen auf den Kontext dieser Studie, heißt das: Es kann nicht darum gehen das ,Essayistische‘ zu bestimmen, um davon ausgehend abzuleiten, nach welchen Gesetzen essayistische Texte funktionieren. Auch können die Einzeltexte als Phänomene nicht Zeugnis für die Existenz des ,Essayistischen‘ ablegen. Die Phänomene, schreibt Benjamin, bestimmten durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen die Begriffe, mit denen sie erfasst werden können. In diesen Begriffen besteht ihre Bedeutung für die Idee. Umgekehrt erscheint die Idee bei Benjamin als Interpretation der Phänomene und ihrer Elemente, die erst durch ebendie Idee – wie die Sterne in den Sternbildern – ihre Zusammengehörigkeit erhalten. Essays und das ,Essayistische‘ können also nur gemeinsam untersucht werden. Letzteres kann nur in Konstellationen aus Einzeltexten erscheinen, und die Frage wäre also, wie sich ein Sternbild seine Sterne ,aussucht‘. Ein einzelner Stern kann dabei kaum als exemplarisch oder besonders typisch für das Sternbild gelten. Die Idee, sagt Benjamin, ist zwar das Allgemeine, aber nicht das Durchschnittliche. Ein Stern erhält seine Bedeutung für das Sternbild vielmehr aufgrund seiner einzigartigen Lage als Extrempunkt innerhalb der Konstellation. Das heißt, auf den Kontext übertragen: Wenn Einzeltexte ihre Bedeutung für das Essayistische aufgrund der Begriffe besitzen, die sich aus ihnen bilden lassen, so müssen es Texte sein, in denen diese Begriffe in aller Deutlichkeit und in extremer Weise zum Vorschein kommen.106 Eine Analyse die sich im Rahmen einer Konstellation bewegt, muss versuchen, Elemente der Einzeltexte begrifflich herauszulösen und in einen Zusammenhang zu bringen: „Als Gestaltung des Zusammenhangs, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben.“107

      Mit Claros del bosque und El mono gramático stützt sich meine Auswahl auf eine gewissermaßen reduktionistische Bestimmung des ,Essayistischen‘, die außer ihrer Eleganz noch einen weiteren Vorteil besitzt; sie markiert auch einen Extrempunkt des ,Essayistischen‘: Birgit Nübel beschreibt ein ,Essayistisches‘ nach Lukács, Bloch und Benjamin als intellektuelles Gedicht, Denkbild oder Gedankenerzählung, die ihren Charakter durch die Kombination von poetischen (bildhaft-narrativen) und argumentativen (diskursiv-reflexiven) Mustern erhält. Deren Verbindung beruhe jedoch nicht auf Kausalität und logischer Deduktion, sondern erfolge auf assoziative, sprunghafte Weise.108 Extrem ist die Textauswahl in mehrfacher Hinsicht: Erstens, weil hier María Zambrano und Octavio Paz die Polarität des Poetischen und des Argumentativen thematisch verarbeiten; zweitens, weil die fraglichen Texte auch auf einer operationalen Ebene diese Thematik performativ verarbeiten; und drittens, weil sie dies auf extreme Weise tun. Beide Texte reflektieren die Spannung poetischer und diskursiver Elemente in äußerster Intensität. Zwischen diesen beiden entsteht damit ein erweiterter Raum, in dem (wie in Platons Großbuchstaben) hervortritt, was sich in seinem Inneren abspielt. Denn das ,Essayistische‘ als „(Such-)Bewegung zwischen verschiedenen Punkten“109 bleibt im Ungefähren, solange der Zwischenraum lediglich als ,sprunghafte Assoziation‘ gekennzeichnet ist. Wenn es darum gehen soll, analytisch an den Operationsmodus der ,essayistischen Praxis‘ heranzukommen, dürfen solche Zwischenräume nicht einfach als Leerstelle ,übersprungen‘ werden. Wie genau werden durch den Sprung zwischen Poetischem und Argumentativem assoziative Querverbindungen gebildet, und welche Rolle spielt diese Bewegung innerhalb der problematischen Suche nach Sinn und Bedeutung, Ganzheit und Totalität? Diese Fragen halte ich für die drängendsten für die wissenschaftliche Arbeit am essayistischen Schreiben.

      Einer Untersuchung innerhalb einer Konstellation ist jedoch nicht damit Genüge getan, Begriffe zu isolieren. Nach Benjamin ist die Idee nur als „Gestaltung des Zusammenhanges umschrieben“.110Die Elemente der beiden Texte von Zambrano und Paz sollen daher in solch einen gestalterischen Zusammenhang mit begleitenden Theoriebeiträgen gebracht werden. Lektüren von Jacques Lacan und Julia Kristeva, Jacques Derrida, Helène Cixous, J.-F. Lyotard, Michel Foucault, aber auch Martin Heidegger und weitere Texte von Zambrano und Paz sind Teil der Konstellation, mit der das ,Essayistische‘ zu umschreiben ist. Was sie verbindet, erscheint dabei immer wieder bildlich über die Metaphern des Wegs, der Lichtung und des Horizonts, die die Begriffe aufnehmen und stützen.

      Die ,Konstellation‘ ist nicht als wissenschaftlich exakter Begriff belastbar, sondern selbst nur bildlich zu verstehen. Der Versuch einer Identifizierung ist, wie bei allen metaphorischen Darstellungen, hochproblematisch. Daher wird eine Identifizierung des Sternbilds in diesem Fall mit einer Idee des ,Essayistischen‘ früher oder später unweigerlich zu Widersprüchen führen. So lässt sich beispielsweise die Frage einer Varianz von Ideen allenfalls durch die Vorstellung einer Konstellation aus Konstellationen klären. Ebenso ließe sich aber das ,Essayistische‘ mit Derrida als die Idee des totalen Bekenntnisses und des „Alles-versammeln-Wollens‘ bestimmen, die in unterschiedlichen, wandelbaren essayistischen Konstellationen erscheint. Eine weitere Möglichkeit wäre – und sie scheint mir im Kontext dieser Arbeit nicht die schlechteste –, das ,Essayistische‘ als Praxis zu sehen, die an der Konstellationenbildung selbst teilhat; eine Kraft, welche die Sternbilder durch die Verbindung von Elementen erkennt – oder überhaupt erst gedanklich erzeugt und sich damit ebenso die Idee seiner selbst erschafft.111 All diese Vorstellungen besitzen Gültigkeit; die Konstellation bleibt als Metapher nur einem approximativ-intuitiven Verstehen zugänglich. Darin liegen zugleich ihre Schwäche und ihre Kraft.

      2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika

      Claros del bosque und El mono gramático sind essayistische Texte, die in besonderem Maß ihren ,poetischen Charakter‘ akzentuieren. Daher lässt sich im weitesten Sinn von einer ,poetischen Essayistik‘ sprechen – insofern dieser Begriff zur Vermeidung erneuter Kategorisierungsversuche nur als Arbeitsbegriff in gedachten Klammern geführt werden soll. Sie sind jedoch als Gruppe von Texten mit ähnlichen ästhetisch-thematischen Sensibilitäten als Extrempunkt des ,Essayistischen‘ zu beobachten, von dem oben die Rede war. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, dieses Textphänomen näher zu betrachten und es innerhalb einer grob umrissenen Geschichte essayistischen Schreibens in Spanien und Lateinamerika einzuordnen.

      Nach Claire de Obaldia vereint das ,Essayistische‘ alle aristotelischen Kategorien in sich: das Lyrische, das Dramatische und das Epische. Während Obaldia den epischen Anteil des ,Essayistischen‘ mit einer Funktion des in der ,Exempla‘-Literatur begründeten ,Storytelling‘ assoziiert, sieht sie das Dramatische in einer Imitation von Dialog durch das Einnehmen verschiedener Blickwinkel umgesetzt. Das dichterische Element des ,Essayistischen‘ zeigt sich ihrer Ansicht nach an einer bilderreichen, ,poetischen‘ Sprachführung sowie in der assoziativen Struktur, die den spontanen Prozess der Gedankenfindung spiegelt. Der Fokus liegt für sie aber nicht allein auf der poetischen Sprache, sondern auch auf einem gewissen Grundton des Diskurses: So sei ein Essay in dem Sinn poetisch, in dem ein Autor den Eindruck erwecke, mehr zu sich selbst als zu anderen zu sprechen. Diese Haltung begründe die Form einer Meditation.112 Die beiden in dieser Arbeit vorgestellten Texte von Zambrano und Paz akzentuieren die lyrische Seite zunächst in einer Weise, die Obaldia hervorhebt: Es handelt sich um ,meditative‘ Textstücke, die eine große Nähe zur Dichtung pflegen und durchdrungen und strukturiert sind von einer reichen Metaphorik. Beide Texte suggerieren aber auch ein ,Bei-sich-selbst-Sprechen‘. Diese Innerlichkeit ist entscheidend für die Sprechsituation eines ,poetischen Essaystils‘, denn sie ist vor allem Ausdruck einer besonderen sprachlichen Intimität und Nähe, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen möchte.

      Auf die generell große Bedeutung

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