Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner

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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner Orbis Romanicus

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materialisiert werden, einen Pionier in Ors. Dieser entwickelt allerdings in späteren Jahren politisch einen tiefen Konservatismus und schließt sich dem ,Falangismo‘ an: unvereinbar mit Zambranos kämpferischem Engagement für die spanische Republik. Was aber immerhin für eine Rezeption Ors’ durch Zambrano spricht, ist der Ansatz reiner Kontemplation, des Denkens als Nichtdenken, der beiden zu eigen ist. Ors hatte es in Oceanografía del tedio bereits 1916 erzählerisch in Szene gesetzt: „¡ni un pensamiento, ni un movimiento!“142 Die reine Betrachtung des Bildhaften, Meditation und Stille sind bei Ors einem Ideal des ,Noucentisme‘ geschuldet: Die klassizistische, zuweilen extrem reduzierte Ästhetik sollte die Präzision des intellektuellen Ausdrucks und die Besinnung auf ein Wesentliches fördern. Zambrano hingegen entlehnt ihre meditative Haltung eher der spanischen Mystik. Die Erforschung der Stille ist jedoch für beide ein intellektuelles Projekt im Sinne einer Weltschau, die sich einer Unbekannten zuwendet; eine Selbstbetrachtung als Ozeanografie der Seele. Dieses Projekt ist bei Zambrano untrennbar mit der Poesie verbunden, weil die Poesie Ort dieser Stille ist. Sie verweist auf das, was dem philosophischen Intellekt entgeht: die Leere zwischen den Zeilen und die Pausen zwischen den Worten; auf einen Zustand, der dem Wort vorgängig ist und dasjenige bewahrt, was sich noch nicht in die Endgültigkeit der Form gefügt hat. Wie Octavio Paz sich erinnern wird, ist dies in seinen zahllosen Gesprächen mit der Philosophin die Stimme Zambranos selbst gewesen: „Es ist eine flüssige Stimme, die nicht geradlinig voranschreitet, sondern sich zwischen Pausen und Schwankungen hindurchschlängelt.“143 Poetische Essayistik ist die Betrachtung der eigenen Stimme; nicht in ihrem Fluss, sondern in ihrer ozeanischen Dimension: „Doch das Meer, das dem frivolen Beobachter als höchste Gleichheit und Monotonie erscheint, bietet dem Taucher, der sich in es vertieft, das Erstaunen über tausend Schauspiele im fantastischen Tempel der Sirene.“144 Der Ort des Selbst liegt in den Zwischenräumen der Sprache; in ihren Vertiefungen, in ihren Pausen. Er ist immer dort, wo die Sprache etwas umgeht und von etwas schweigt. Die poetisch essayistische Selbstbetrachtung erkennt das Selbst als Stille, als Ausgangspunkt der Dichtung, der selbst die Struktur des ,Ozeanischen‘ besitzt: „Die Poesie muss immer die Form des Ungeformten sein“,145 schreibt Zambrano an den kubanischen Dichter Virgilio Piñera. Poetische Essayistik ist der Versuch, das Ungeformte des Selbst in dieser Stille zu erkunden. Sie ist ein Anhalten der Sprache und der Versuch, ihre Tiefe auszuloten, das heißt dem poetischen Vermögen des Wortes, den Möglichkeiten seiner Erfassung und Gestaltung der Welt nachzuspüren. Sprechen. Verklingen lassen. Hören. Neu ansetzen. In diesem Sinne ist poetische Essayistik Ozeanografie: die Erkundung dessen, was Octavio Paz die „Flüssigkeit“ der Stimme Zambranos nennt; eine tastende, kritische Versenkung in die nachklingende Stille des Wortes.

      In Lateinamerika verläuft die Entwicklung des Begriffs ,ensayo‘ ähnlich wie in Spanien. Pilar Sanjuan spricht von einem klaren Parallelismus in der Entfaltung des modernen spanischen und lateinamerikanischen Denkens, der sich in der Essayistik spiegele.146 Der Beginn der Kolonialzeit bedeutet gleichzeitig einen ersten Export spanischer Ideenliteratur. War Amerika zunächst lediglich Thema in den Chroniken spanischer Conquistadores, bildete sich rasch eine Generation von Autoren wie Fray Bartolomé de las Casas oder Sor Juana de la Cruz, die in den Kolonien lebten bzw. bereits dort geboren waren und in ihren Texten einen genuin kolonial-amerikanischen Blick auf die Realitäten des neuen Kontinents entwickelten. Ob es allerdings im 16. und 17. Jh. bereits einen ,lateinamerikanischen Essay‘ gab, darüber herrscht Uneinigkeit: Zwar will Alberto Blasi in den Berichten der Conquistadores, die sich mittels einer „voluntad de visión“147 die Neue Welt erschlossen, bereits Vorläufer des Essays erblicken. Dem widerspricht aber vehement David Lagmanovich: Die Geschichte des ,lateinamerikanischen Essays‘ beginnt seiner Meinung nach erst mit der Entstehung der Republiken in den 1840er-Jahren.148 Letztlich ist es erneut eine Frage des Verständnisses des Begriffs ,ensayo‘, welchem Standpunkt größere Gültigkeit zuerkannt wird. Ähnlich wie in Spanien entsteht im 16. und 17. Jh. ,Ideenliteratur‘ in Form des ,tratado‘ oder der ,meditación filososófica‘, und mit der Aufklärung kommt es zu einer Entstehung zahlreicher Zeitschriften, ,revistas misceláneas‘ und Gazetten, die einen Diskurs etablieren, der essayistische Züge, „rasgos ensayísticos“,149 trägt. Der Begriff des ,ensayo‘ setzt sich jedoch auch in Amerika erst im 19. Jh. durch.150

      In den beiden Generationen von Romantikern um Esteban Echevarría, Juan Montalvo und Eugenio María Hostos als herausragenden Figuren gehen Literatur und Politik eine besonders enge Verbindung ein:151 Den lateinamerikanischen Intellektuellen dieser Zeit geht es vor allem um politische Emanzipation, die sie mittels einer geistigen anstreben. Natürlich fällt unter diesen Typus auch Sarmientos berühmter Facundo. Didaktik und Erziehung stehen im Vordergrund,152 was Montaignes Konzeption des Essays bereits prinzipiell zuwiderläuft. Dennoch lodert in Sarmientos romantischem Eklektizismus eine transgressive Ästhetik, die man bereits als essayistische Haltung bezeichnen könnte. In einer wilden Durchmischung landeskundlicher und soziologischer Betrachtungen, lebendiger Beschreibungen, persönlicher Erzählungen und Anekdoten, biografischer Notizen und Gedichtzitate verschafft sie sich einen wortgewaltigen Ausdruck.

      Der ,ensayo naturalista-modernista‘ umfasst die zwischen 1845 und 1889 geborenen Schriftsteller. Die ,großen Namen‘ unter ihnen sind José Martí, Paul Groussac, Rubén Darío, José Enrique Rodó und José Vasconcelos, um nur einige zu nennen.153 Diese Generationen sind geprägt von einer Wiederentdeckung humanistischen Denkens und einem aufkommenden Kosmopolitismus.154 Die Tradition der lateinamerikanischen ,Ideenliteratur‘ ist zu heterogen und weitläufig, um sie hier in Kürze darzustellen. Dazu kommt, dass der Versuch einer Gliederung in ,ensayo romántico‘, ,modernista‘, ,vanguardista‘, wie David Lagmanovich sie hier vorstellt, nur bedingt sinnvoll erscheint. Gewiss lassen sich stilistische und thematische Zusammensetzung dieser Texte sehr grob ihrer Epoche zuordnen; der Erkenntnisgewinn einer solchen Zuordnung ist allerdings fraglich. Zudem gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen Autoren derselben Epoche; auch das Werk jedes Einzelnen ist in sich oft äußerst heterogen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass sich expositorisches Schreiben in Lateinamerika vor allem kämpferisch und politisch gibt. Ausgehend von der romantischen Entdeckung des ,Ich‘ in seiner Subjektivität, schreibt es gegen koloniale Kräfte an, protestiert gegen Militarismus, Autokratie, Vertreibung und schwindende Identität. ,Der Essay‘ ist in Lateinamerika in besonderer Weise Mittel der Anklage und „llamada a la acción“.155 Dies entspricht der Wandlung, die nach Juan Loveluck jede Kunstform auf dem Weg von Europa nach Amerika vollzogen hat; im Falle des ,Essay‘ spricht er von einer Wendung ins Programmatische und Eruptuive – von einem „tránsito de la fórmula europea (contemplativa y serena, con vuelos metafísicos y abstrusas elaboraciones) hasta una voluntad programática, luchadora y eruptiva“.156

      Die Wiederentdeckung einer Essayistik, die sich auf ihre Wurzeln in der frühen Moderne und besonders auf eine spekulative, persönliche und beobachtende Dimension zurückbesinnt, erfolgt in Lateinamerika mit der ,Generación del 27‘, die an dieser Stelle nicht mit der gleichnamigen spanischen Generation verwechselt werden darf. David Lagmanovich assoziiert sie in seiner an Cedomil Goic orientierten Klassifikation157 mit dem Erscheinen eines neuen Typs des Essays, dem ,ensayo vanguardista-existencialista‘. Seine wichtigsten Vertreter sind neben José Carlos Mariátegui vor allem Autoren aus dem La-Plata-Raum wie Ezequiel Martinez Estrada, später Ernesto Sábato und natürlich die herausragende Figur J.L. Borges. Daniel Balderston nach vereint gerade Borges zahlreiche Charakteristika des Montaigne-Typus. So biete seine relativierende Haltung keine definitiven Lösungen und bleibe stattdessen im Spekulativen. Sein ironischer Ton, mit dem er Sicherheiten untergrabe, könne als wichtigster Beitrag zu einer Gattung des Essays zählen.158 Für Claire de Obaldia verkörpert Borges gar den essayistischen Geist in besonderer Weise: Die Essayistik sei seit Montaigne ein steter Übergang vom Philosophischen zum Literarischen, und diese Tendenz sei im Fall Borges besonders gut zu beobachten. Wie bereits Jaime Alazraki beobachtet auch sie die Verschmelzung von ,cuento‘ und ,ensayo‘ in seinem Werk.159

      Die Essayistik in Lateinamerika der ersten Hälfte des 20. Jh. steht unter dem Zeichen der großen Panoramen der Geschichtsdeutung. Wie Claudio Maíz hervorhebt, bestärkten nicht zuletzt die beiden Weltkriege trotz des Bewusstseins der Randständigkeit ein wachsendes Selbstbewusstsein: „Lateinamerika

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