Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner

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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner Orbis Romanicus

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Möglichkeiten erwogen? Andererseits: Sind alle Möglichkeiten überhaupt erwägbar?209

      So wenig wie Montaigne in die Wissenssysteme und -schulen seiner Zeit eintaucht, so wenig arbeitet er sich auch an dem ab, was wie kaum etwas anderes die Totalität dieser Systeme suggeriert: das Buch. Seine Lesepraxis bleibt die eines Müßiggängers in den Schriften, eher aufmerksam blätternd als sich in die Lektüre versenkend. Wie Hugo Friedrich schreibt, liest Montaigne interessiert, aber nüchtern. „Das Ringen mit großen Autoren mag er nicht.“210 Stattdessen kokettiert er mit der eigenen Durchschnittlichkeit und einem angeblich schlechten Gedächtnis. Die Bücher dienen ihm nicht wie den Humanisten als belehrende Autorität, sondern als Anregung. Hans Blumenberg, der sich in Die Lesbarkeit der Welt mit dem ,Buch‘ als Metapher für die Erfahrbarkeit der Welt beschäftigt, spricht von der Metapher des „Buchs der Natur“, mit der Nikolaus von Cues das Bibliotheks- und Bücherwissen konfrontiert hatte: Von dem Übermaß der Schriften befreie das eine Buch der Natur, dessen Erkenntnisse auch dem illiteraten Laien zur Verfügung stünden. Die Gestalt des ,Idiota‘, des unkundigen, aber mit Weltklugheit und Selbstbewusstsein ausgestatteten Stadtbewohners, „antwortet dem gelehrten Redner auf die Frage, woher er denn seine Wissenschaft der Unwissenheit (scientia ignorantiæ) habe: Nicht aus deinen Büchern, sondern aus Gottes Büchern, die er mit eigener Hand geschrieben hat.“211 Nach Blumenberg muss der Cusaner die Metapher von den ,beiden Büchern‘ (Die Natur und die Schriften) wohl von dem katalanischen Humanisten Raymund von Sabunde gekannt haben. Dessen Theologia Naturalis (1436) war in Montaignes Übersetzung ins Französische (1568) einem größeren Publikum bekannt geworden. Sabunde vertrat die Auffassung, Gottes Buch der Natur sei im Grunde fälschungssicherer als die Heilige Schrift, da es nicht falsch ausgelegt werden könne. Somit habe der Laie, der in diesem Buch lese, einen unmittelbareren Zugang zur Weisheit. Montaigne hatte sich über seine Übersetzungsarbeit intensiv mit Sabunde auseinandergesetzt, wovon auch der mit Abstand umfangreichste Text seiner Essais, die Apologie de Raimond Sebond (II, 12), zeugt. Blumenberg ist der Auffassung, dass die Metapher des Buchs der Natur, in welchem der ,Idiota‘ mehr Erkenntnis findet als der Gelehrte und in dem Weisheit gegen Wissenschaft steht, Jahrhunderte später „Selbstdenken“ genannt werden wird:212 Das Bücherwissen kann die Erfahrung nicht ersetzen. Die Essais sind dem Ideal des ,Idiota‘ und seiner ,scientia ignorantiæ‘ verpflichtet. Doch Montaigne deutet Sabundes Metapher gleichzeitig um: „Montaignes Begriff der Welt steht den Erscheinungen des Menschen näher als denen der Natur und die Menschenwelt ist Repertoire der Reflexion, der Selbstentdeckung des Subjekts.“213 Das heißt: Montaigne hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir uns mit der Vokabel ,Welt‘ nicht nur auf die ,Natur‘, sondern besonders auf den Menschen und seine Kulturleistungen beziehen. In dieser Tradition steht essayistisches Schreiben bis heute. Es ist überhaupt nur aus einer Kulturfülle heraus vorstellbar und existiert nur dort, wo sich sprachliche Zeichen der Zivilisation herausgebildet haben. So ist auch, wie Gerhard Haas schreibt, die Nichtoffenlegung der Zitate nicht als Plagiat zu werten. Vielmehr drückt sich genau darin ein „souveränes Verfügen über einen reichen Kulturbestand“214 aus. ,Das Essayistische‘ konstituiert das Individuum nicht aus sich heraus, sondern betrachtet es als ein Kulturprodukt, das mit den Kulturleistungen, mit den Äußerungen anderer verschmelze, ja die es überhaupt erst hervorbringe. Das ,Essayistische‘ betrachtet ,Kultur‘ und ,Geschichte‘ nicht als etwas Sekundäres, von der ,Natur‘ Abgeleitetes, sondern als die Natur des Menschen selbst. Adorno betont diesen Aspekt, wenn er schreibt, ein Essayist versenke sich in Kulturphänomene wie in eine zweite Natur, doch: „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste.“215

      Die beiden Texte von Zambrano und Paz sind nicht zuletzt Symbole für die essayistische Sicht auf die Kultur als ,erste Natur‘ des Menschen. María Zambranos biografisch reale Waldspaziergänge, die sich im Schreiben der Waldlichtungen spiegeln, beschreiben Wege durch das wahre Habitat des Menschen – den Wald von Zeichen, in dem der Mensch selbst als unwirkliche, nicht zu betretende Lichtung erscheint (wer Wald ist, kann die Lichtung nicht betreten). Und Octavio Paz’ ebenso historisch wirkliches Schlendern durch das Tempelareal von Galta ist Weg durch die halb verfallenen Schriftarchitekturen und Symbolkonstruktionen, die mit der Natur verschmelzen, von ihr verschluckt und überwuchert werden: Der Mensch, der darin haust, wird selbst zur Schriftruine, die niemals ein Ganzes beschreibt, sondern bröckelt, immer wieder ausgebessert und schließlich ganz verschluckt wird: mächtige Bilder für die Zivilisation als Natur des Menschen und ihre ständige Bedrohung der Auslöschung durch eine Gegenkraft, die schon im Mythos Babylon aufscheint. Das ,Essayistische‘ selbst hat Anteil an diesem Mythos. Montaignes Turm, Borges’ labyrinthische Bibliothek von Babel, Octavio Paz’ halb verfallene chimärische Tempelarchitektur von Galta – all diese Metaphern sind Aspekte des Mythos von der Ambivalenz des Menschen zwischen der Erhabenheit und dem Wahn, zwischen der Anstrengung des Aufbaus und dem ,Sic transit gloria mundi‘; nicht zuletzt des katastrophistischen Mythos der fatalen Verstrickung in die eigenen Schöpfungen. Der Wald der Zeichen und die Wüste der Signifikation reihen sich in die Metaphernwelt des mythischen Babylon ein, die, mit den Worten des Kunsthistorikers Sébastien Allard, das „allgegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen Dekonstruktion und (Re)konstruktion“ beschreiben.216 Wald und Wüste, wie sie in den Texten von Zambrano und Paz erscheinen, übertragen den Mythos Babylon von der Architektur auf die Natur, sodass von ,erster‘ oder ,zweiter‘ Natur im Sinne Adornos überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann. Das ,Essayistische‘ ist nicht zuletzt ein Weg, diese Natur zwischen Selbstbehauptung und Entmächtigung in sich selbst zu ergründen, dem Mythos der Zivilisation in sich selbst nachzuspüren.

      Für Montaignes Zeitgenossen war das Projekt der Erkundung der eigenen Subjektivität ein Novum. Die Faszination dafür brachte ihm zwar zahllose Bewunderer ein – allein von 1580 bis 1669 wurden die Essais in 37 Auflagen gedruckt –, doch selbst diese verstanden ihn im Grunde nicht. Wie Pierre Villey schreibt, war Montaigne seiner Zeit um 150 Jahre voraus. Erst im 18. Jh. hätte sein Denken wirklich erblühen können.217 Folgten die ersten beiden Bände der Essais noch einem breiteren Geschmack, zeigten sich selbst Freunde Montaignes vom dritten Band irritiert. Einig waren sich selbst wohlmeinende Leser in der Zurückweisung der ,peinture du moi‘, der exzessiven Präsenz des ,Ich‘ in den Texten, die in den späteren Essays ein immer größeres Ausmaß annimmt. Gewohnt und ,erlaubt‘ war die Darstellung von Handlungen öffentlicher Personen, die Teil der Geschichte waren und zu einer staatsmännischen Bildung beitragen konnten. Die Darstellung eines privaten ,Ich‘ hingegen war ein regelrechter Skandal, und so sah sich Montaigne mit dem Vorwurf der Eitelkeit konfrontiert, der „vanité de se mettre en scène“; die Essais waren für viele „un livre puéril, vain, pervers“.218 Dabei spielten nicht zuletzt auch religiöse Gründe eine Rolle, denn der Entwurf des eigenen ,Ich‘ im Duktus des Müßiggängers konnte als Abkehr von Gott aufgefasst und in die Nähe der Todsünden gerückt werden. Vor allem aber war es schlicht unschicklich.

      Freilich war Montaigne innerhalb der christlichen Welt nicht der Erste, der über sich selbst schrieb. Eines der prominentesten Beispiele für die Darstellung eines ,Ich‘ sind wohl die Confessiones des Augustinus. Doch besitzt das ,Ich‘ hier einen ganz anderen Status: Augustinus spricht von seinen Fehlern, um sich Gott zu unterwerfen; Selbsterkenntnis ist hier die Erkenntnis der Erlösbarkeit durch Gott. Daher gibt Augustinus nur wieder, was in Zusammenhang mit dem Gnadenereignis steht. Hugo Friedrich spricht von einer teleologischen Praxis, bei der es um ein schrittweises Ins-Reine-Kommen mit Gott und dem Heilsplan geht.219 Montaigne hingegen sucht kein Gnadenereignis. Er spricht über seine Wirkung auf Frauen, seine Gallensteine und das Schuheschnüren. Friedrich schreibt, die „Essais sind ein tagebuchähnlicher Monolog, bei dem man nie genau weiß, wen sich der Verfasser, außer sich selbst, als Mithörer denkt; Gott ist es jedenfalls nicht“.220 Obwohl Montaigne in seinen Ideen katholisch konservativ bleibt, zieht er auch den Zorn der Kirche auf sich, sodass seine Essias 1676 auf den vatikanischen Index verbotener Bücher gesetzt werden. Dabei dürfte wohl seine antidogmatische, radikal skeptische und für seine Zeit damit in gewisser Weise rebellische Grundhaltung eine Rolle gespielt haben, die in Verbindung mit einer rein weltlich ausgerichteten Moral die Autoritäten auf den Plan gerufen hatte. Bernhard Teuber liest die Essais als Auseinandersetzung mit den Dispositiven der Macht, in

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