Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner

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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner Orbis Romanicus

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eines der Verblüffung über die Modernität, die uns einen Menschen in seinen privaten Ansichten und Problemen über 400 Jahre hinweg so unglaublich nah erscheinen lässt. Die zeitgenössischen Leser jedoch hat Montaigne stark polarisiert: Als Montaigne seine Essais im Zeitraum von 1572 bis zu seinem Tod 1592 schreibt, ist Europa noch von der mittelalterlichen Scholastik geprägt, mit ihrer deduktiven Beweisführung und strengen Dialektik. Dagegen musste allein schon das assoziativ gestaltete Spiel mit Zitaten, Weisheiten, Anekdoten und Sprichwörtern, die Montaigne in Bezug zu politischen und persönlichen Fragestellungen setzt, geradezu verstörend wirken. Nicht seine Ideen und Urteile selbst waren es, gegen die sich die Empörung richtete – die fest katholische Einstellung Montaignes bezweifelte wohl niemand, noch vertrat er in Moral und Politik unerhörte Meinungen;192 vielmehr war es die Form seines Schreibens, die gerade in gelehrten Kreisen den Unwillen weckte. Seine Gegner warfen ihm, wie Pierre Villey schreibt, eine gewagte Unwissenheit vor sowie die Arroganz, ohne wissenschaftliche Methode und vernünftigen Aufbau über alles zu urteilen.193 Montaigne, so also der Vorwurf, maßt sich eine Kompetenz an, welche der Ton und die Form seines Schreibens nicht rechtfertigen. Vor allem aber hat Montaigne Schwierigkeiten, Autoritäten anzuerkennen. Sein Widerwille gegen alles hierarchisch und systematisch Gegliederte lässt ihn vorgefertigte Meinungen hinterfragen und gegen ein didaktisch geordnetes ,Erstens, zweitens, drittens‘ anschreiben.194 Damit will Montaigne Werturteile von jeglicher Autorität und Vorurteilen befreien.195 Wir hätten unsere Meinungen nur von alten Philosophen übernommen, urteilt er im Essay über die Physiognomie (III, 12). Es gelte schlicht als schick, ihnen aufgrund ihrer Autorität Beifall zu zollen, um selbst für gelehrt und kundig gehalten zu werden; selbst wenn ihre Ideen weder dem eigenen Geschmack noch der eigenen Lebensführung entsprächen. Dabei würden die Lehrmeinungen in immer prunkvollere Sätze gegossen. Es gelte jedoch, das eigene Urteil und den eigenen Blick zu schulen, ohne auf den Putz und Pomp rhetorischer Raffinessen und altehrwürdiger Namen hereinzufallen:

      Wir nehmen Reize nur noch wahr, wenn sie künstlich sind: gestelzt, gebläht und aufgedonnert. Geht der Liebreiz im Gewand natürlicher Schlichtheit einher, wird er von einem so groben Blick wie dem unseren leicht übersehn, denn seine Schönheit ist zart und verborgen. Um dieses geheime Leuchten zu entdecken, bedarf es eines zur Klarheit geläuterten Auges.196

      Montaigne wendet sich nicht nur hier polemisch gegen die Figur des späthumanistischen Gelehrten, der er diesen klaren Blick nicht zutraut und unter denen er dementsprechend wenig Freunde findet. Er kritisiert eine wissenschaftliche Praxis, die sich in den humanistischen Kompendien seiner Zeit oder, im Bereich der ,Naturwissenschaft‘, in den Wissenskompilationen austobe. Der Humanismus läuft sich in den humanistisch gebildeten Augen Montaignes tot, weil er zunehmend darin bestehe, Maximen antiker Autoren unkritisch aneinanderzustückeln; „es reichte schon das Vorwort irgendeines deutschen Schriftstellers, um mich mit Zitaten vollzustopfen.“197 Einer schreibt vom Nächsten ab und reproduziert ein Wissen, dem wirkliches Verständnis und Substanz fehlen, und scheint daher nicht mehr fähig, Neues hervorzubringen.

      Dergleichen Sammelsurien abgedroschener Gemeinplätze, mit denen so viele Leute ihr Studium betreiben, ohne sich in geistige Unkosten zu stürzen, sind kaum für andere, als für abgedroschene Themen brauchbar. […] Ich habe gesehn, wie Bücher über Dinge gemacht wurden, die der Autor weder studiert noch verstanden hat.198

      Anders als der Vorwurf der Beliebigkeit und Unwissenschaftlichkeit, der Montaigne von zeitgenössischen Gelehrten gemacht wurde (und dem sich Essayisten bis heute stellen müssen), sind die Essais Ausdruck des Versuchs einer Ordnung: Was ist relevant, in welchem Zusammenhang? Dabei richtet sich Montaigne gerade gegen die Vielwisserei199 und gegen die Überschwemmung durch gelehrte Zitate und unreflektierte Versatzstücke. Die Literatur, aus der sich die Essais herausbilden und die sie gleichzeitig kritisieren, war, wie Pierre Villey schreibt, eine der Popularisierung antiker Weisheiten.200 Darunter fallen vor allem Adaptionen antiker Schriften: moralische Sentenzen und, nach dem Vorbild Plutarchs, ,exempla‘ von Lastern und Tugenden großer Männer der Geschichte, Anthologien und Nachdrucke, vermischt mit Bonmots und erstaunlichen Anekdoten. Villey spricht von einer „quantité des maximes et de réflection mal digérées“201 – von schlecht verdauten Reflexionen. Der Hunger nach Literatur über moralische Fragestellungen war brandaktuell, gleichzeitig waren die zeitgenössischen Schriften scheinbar zum Vergessenwerden verdammt, da sie kaum imstande waren, etwas wirklich Neues zu schaffen. Villey weist darauf hin, dass auch Montaigne wahrscheinlich nicht geplant hatte, eine neue literarische Form zu kreieren. Vor allem die frühen, um 1572 entstandenen Essais folgen noch sehr dem Stil der damals in Mode geratenen ,leçons‘. Sie sind eher unpersönlich, präsentieren wenig eigene Gedanken und ähneln dem literarischen Substrat, aus dem sie hervorgegangen sind. Doch schon bald verselbstständigt sich Montaignes Schreiben, und er beginnt, die antike ,Rezeptphilosophie‘ in moralischen Fragestellungen den realen Bedingungen des Individuums gegenüberzustellen und sie dem Praxistest des eigenen Lebens zu unterziehen. Folgte Montaigne dabei anfangs vage stoizistischen Idealen (Que Philosopher, c’est apprendre à mourir, I, 20), entwickelt sich sein Schreiben schon bald fort. Er folgt keiner bestimmten Denkrichtung, sondern macht sie sich alle zu eigen und unterzieht sie einer Kritik, die als modern gelten kann.202 Seine Moral ist dabei nicht mehr an einem göttlichen Wesen ausgerichtet, sondern allein an der menschlichen Vernunft.203

      Eine andere Art zeitgenössischer Literatur waren die naturwissenschaftlichen Kompilationen als Ausdruck, wie Claire de Obaldia schreibt, einer kollektivistischen Tradition.204 In diesen Nachschlagewerken wurde kritiklos alles zusammengeführt, was über einen Gegenstand der Natur, etwa ein Tier, bekannt war. Ein besonders anschauliches Beispiel solcher Kompilationen ist durch Michel Foucault einem breiteren Publikum bekannt geworden: die Historia serpentum et draconum des italienischen Naturforschers Ulisse Aldrovandi. Aldrovandi kategorisiert sein Kapitel über Schlangen in Rubriken, die für uns heute kurios erscheinen, wie etwa: Anatomie, Bewegung, Vorkommen, aber ebenso Doppeldeutigkeit, Synonyme, Heilmittel, Lehrfabeln, Symbole, rätselhafte Wunder, Träume etc. Die Essais lassen sich auch als Reaktion auf solche Kompilationen lesen. Wie Claire de Obaldia schreibt, kritisiert Montaigne die Willkür einer solchen Wissensorganisation und konfrontiert sie mit Kritik und Reflexion.205 Für Montaigne sind die Kompilationen Ausdruck des utopischen Gedankens, einen göttlichen Bauplan des Universums in einer allumfassenden und zugleich menschenverständlichen Weise begreifen zu können. In diesem Sinne hat die rigorose innere Organisation eines abstrakten Wissenssystems Montaigne wohl nicht etwa gelangweilt, wie der argentinische Literaturwissenschaftler Walter Mignolo schreibt,206 sie musste ihm vielmehr als Phantasmagorie (oder ,fantaisie‘) erscheinen.

      der Arten Zahl ist unbekannt, und keiner hat sie je benannt. Die Wissenschaftler sind es, die ihre Ideen [fantaisies] zergliedern und bis ins kleinste mit spezifischen Begriffen umgrenzen. Ich hingegen, der ich nicht mehr Einblick habe, als die Alltagserfahrung mir völlig reglos zukommen läßt, lege die meinen, mich vorantastend, nur in groben Zügen dar – so auch hier, wo ich meine Meinungen in unverbundenen Sätzen ausspreche, wie man es bei Dingen zu tun pflegt, die sich nicht auf einmal und im ganzen [à la fois et en bloc] sagen lassen.207

      Der Illusion des wissenschaftlichen Systems, innerhalb dessen alle Aussagen bereits angelegt sind und somit zumindest theoretisch ,à la fois et en bloc‘ genannt werden können, erteilt er eine Absage. Es gibt keine Vollständigkeit, keine letztgültige Kategorisierung – daher bleibt das Wissen immer Fragment und Provisorium, das sich auf die individuelle Erfahrung gründet. Radikale Skepsis übernimmt die Regie über Montaignes Denken. Die Unsicherheit gegenüber allen Urteilen – auch den eigenen – lässt ihn nur tastend voranschreiten (à tâtons).

      Symbol dieser Skepsis ist die Medaille, die Montaigne 1576 prägen lässt: darauf eine Waage mit gleichgerichteten Schalen mit dem Wahlspruch darüber „Que scay-je“ – was weiß ich. Bildlich gesprochen, besitzt jede Medaille – ebenso wie die Waage – zwei Seiten. Gerhard Haas interpretiert Montaignes Wahlspruch sehr treffend als eine solche Ambivalenz. So sei jenes „Qué scay-je“ einerseits „Rechenschaftsablegung eines wachen Geistes“,208 der sein Wissen inventarisiert, es organisiert, Zusammenhänge ergründet und nach Relevanz

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