Gesundheit - Begriff, Phänomen, Konstrukt. Группа авторов
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1.8 Franklsche Wertekategorien und die Sinnverwirklichung
Viktor E. Frankl nennt drei Wertekategorien, die es dem Menschen ermöglichen, Sinn zu verwirklichen. Diese sind: 1. Schöpferische Werte; 2. Erlebniswerte; 3. Einstellungswerte.
Sowohl das menschliche Schaffen als auch das Erleben verwirklichen sich – wie bereits darauf hingewiesen wurde –, indem der Mensch sich von sich selbst distanziert und sich einer Sache (beim Schaffen) oder einer Person (beim Lieben) hingibt. Die Entdeckung eines Sinns im Leiden setzt ebenfalls die Selbsttranszendenz des Menschen voraus und wird von Frankl als eine geistige Leistung des Menschen verstanden. Das Leiden an sich hat keinen Sinn, erst dann, wenn es im „Erleiden“ die Einstellungswerte im Menschen mobilisiert. Erst dort, wo unabänderliches Leiden, also „etwas Schicksalhaftes, als solches hingenommen werden muss. In der Weise, wie einer diese Dinge auf sich nimmt, ergibt sich eine unabsehbare Fülle von Wertmöglichkeiten“18. Frankl lehrt daher, dass das menschliche Leben sich nicht nur im Schaffen oder im Freuen, sondern auch noch im Leiden erfüllen kann. Ihm geht es „nicht um eine Art Glorifizierung des Leidens. Er hebt vielmehr nur darauf ab, dass jeder Mensch den Sinn seines Lebens in jeder Situation – die leidvollen Situationen inbegriffen – als konkret einmalig und einzigartig entdecken und erfüllen muss, wenn er seelisch gesund bleiben will, oder wenn er die seelische Heilung wieder finden will.“19
1.9 Seelenheil vs. Heilung der Seele bei Frankl
Ziel der Logotherapie als angewandte Psychotherapie ist die seelische Heilung. Diesbezüglich klärt Frankl den Unterschied zur Religion: Deren Ziel ist das Seelenheil. Allerdings schließt er nicht aus, dass bei einer religiös seelsorglichen Begleitung per effectum eine seelische Heilung erreicht werden kann. In diesem Sinne kann es umgekehrt auch durchaus möglich sein, dass eine logotherapeutische „Behandlung“ des Menschen per effectum zu seinem Seelenheil beitragen kann. Offenkundig ist, dass Frankl die Religiosität des Menschen nicht missachtet, aber auch nicht als eine notwendige Voraussetzung für die Sinnsuche betrachtet.20 So bedeutet der religiöse Glaube für die Logotherapie und Existenzanalyse „ein Glauben an den Übersinn – ein Vertrauen auf den Übersinn“21, mit dem – wenn vorhanden – therapeutisch gut gearbeitet werden kann. Glauben ist damit für Frankl eine existenzielle Entscheidung und kann als Ausdruck der allermenschlichsten Phänomene verstanden werden, der sich in der Sinnmotivation des Menschen Ausdruck verschaffen kann. Darin eingeschlossen ist „das Erleben der eigenen Fragmentarität und der eigenen Relativität auf einem absoluten Hintergrund“22.
Der Mensch als geistige Person steht also im Mittelpunkt der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl. Er, der Mensch ist es, dem das Leben Fragen stellt, die er nicht zu beantworten, sondern zu verantworten hat. Gesund zu sein, wohlauf zu sein, heißt damit, die Sinnmöglichkeiten im Leben, das Gesollte immer wieder zu erkennen und dementsprechend das Leben zu gestalten. Hilfe bei der Sinn-Suche erfährt der Mensch von seinem Gewissen als „Sinnorgan“23. Abweichend allerdings vom herkömmlichen psychoanalytischen Verständnis von Gewissen meint Frankl, dass es den Zugang zum Werthorizont der geistigen Person eröffnet und dessen Sinnmöglichkeiten erschließt. Es nimmt somit nicht einen subjektiven Sinn wahr (im Dienst einer Bedürfnisbefriedigung), sondern arbeitet transsubjektiv, das heißt, es peilt „Werte in der Welt, ihre Erhaltung und Vermehrung“ an.24
2 Fünf Thesen zur Person und ihre Relevanz für die kirchliche Praxis25
Der Weg der Kirche ist der Mensch (RH 1). Damit bestimmte Papst Johannes Paul II. den neuen (konziliaren) Weg von Kirche-Sein. Nicht selten begegnet man dem Wunsch, in den Ortskirchen eine Kirche nahe bei den Menschen sein zu wollen. Eine Kirche bei den Menschen ist für Papst Franziskus eine Kirche, deren Leben und Ausrichtung die Logik der Inkarnation bestimmt, anstatt ihre Selbstbezogenheit. Wer aber ist dieser Mensch, dem die Kirche nahe sein will, und vor allem, wozu wollen wir dem Menschen als Kirche nahe sein? Es ist offensichtlich, dass diese Frage in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit in der Kirche und in der Gestaltung der kirchlichen Praxis erfahren hat. Stattdessen wird stets an eine Kirche erinnert, die es jahrhundertelang zu wenig beachtet hat, den Menschen ihr Leben frei und verantwortungsvoll gestalten zu lassen. So ist auch in der Seelsorge eine gewisse Unsicherheit festzustellen, wenn es um die Begegnung mit dem Menschen geht, und um die Frage, wonach sich die Seelsorge ausrichten soll, wenn sie in allen Facetten der kirchlichen Praxis ganz nach der Logik der Inkarnation bei den Menschen sein will. Viktor E. Frankl eilt der kirchlichen Praxis hier mit seiner Logotherapie und Existenzanalyse zu Hilfe und bietet anthropologisch und medizinisch gut fundierte Thesen zur Person an, von denen sich die Kirche provozieren lassen kann.
(1) Die Person ist ein Individuum: sie ist etwas Unteilbares – sie lässt sich nicht weiter unterteilen, nicht aufspalten, und zwar deshalb nicht, weil sie Einheit ist.
Hierbei geht es um die Bedeutung einer Balance im Leben. Die Person als Einheit von Körper, Geist und Seele manifestiert sich in der Leistungs-, Liebes- und Leidensfähigkeit. Finden diese Fähigkeiten nicht entsprechend Beachtung, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht. Ungleichgewicht erschwert es dem Menschen, sich als Individuum zu entfalten. Freilich wird Leistung in unseren hochmodernen Gesellschaften anderen Fähigkeiten gegenüber stark betont. Damit drohen Ganzheitlichkeit und Unteilbarkeit – als das spezifisch Menschliche – verloren zu gehen. Der Mensch kann seine Balance leicht verlieren und in Instabilität geraten. Er kippt aus seiner Stimmigkeit und verliert den Halt im Leben.26
Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Alle drei Fähigkeiten im Menschen sind zu stärken, um eine gesunde Balance zu ermöglichen. Diese Stärkung kann im seelsorglichen Gespräch, in der Katechese, in der Predigt, durch Veranstaltungen erfolgen, die vor allem die Erlebniswerte und Einstellungswerte des Menschen im Blick haben. Dadurch werden die Liebesfähigkeit und die Leidensfähigkeit des Menschen gefordert, auch als Gegenpol zum Alltagsstress der Leistungsgesellschaft. Ein Mensch, der die Werthaftigkeit der Welt und ihrer Angebote wahrnimmt, erlebt sich als liebevoll, weltoffen, sozial sensibel, konstruktiv und friedfertig. Sein Leben kann gelingen, trotz schwieriger Umstände, ein Heilungsprozess im Menschen kann beschleunigt werden.
(2) Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile; d. h. sie ist nicht nur unteilbar, sondern auch nicht verschmelzbar, und dies deswegen, weil sie nicht nur Einheit, sondern auch Ganzheit ist.
Mit „in-summabile“ meint Frankl, dass der Mensch in seiner Ganzheit sich nicht von eigenen oder fremden Erwartungen abhängig machen muss, sondern es steht ihm jederzeit offen, seinem persönlichen Sinnaufruf zu folgen. Er ist als Individuum unverschmelzbar mit der Masse und bleibt auch in der Gesellschaft eine Person, die einzigartig und einmalig ist. Die Sinnorientierung schützt den Menschen vor einer heute sehr verbreiteten Zweckorientierung. Durch direkt intendierten Zweck macht sich die Person vom Erfolg abhängig und verfehlt den Sinn. Zweckorientierung statt Sinnorientierung führt zu einer „Schräglage“ des Menschen, die wider sein eigenes Wesen ist. Streben nach Macht, Prestige, Lust, Geld oder Gewinn verführen den Menschen zu sinnwidrigen Aktionen, generieren die Angst des Scheiterns und führen zum Hetzen, Erzwingen, zu Neid. Die Verfestigung dieser Schräglage macht langfristig krank.27
Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Raum schaffen, damit der Mensch mit all seinen Schwächen und Ängsten geradestehen kann, ohne verurteilt zu werden. Eine Lenkung seiner Aufmerksamkeit weg von seinen Ängsten und seinem möglichen Versagen hin auf die Sinnfindung – wofür er leben will – kann seine Selbsttranszendenz aktivieren. Der Mensch kann sich selbst überschreiten,