Kleine politische Schriften. Walter Brendel
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Wir sehen daraus, daß die intensive Privatgroßproduktion im Ackerbau, welche in England besteht, obschon weit ergiebiger als die ackerbauliche Kleinproduktion, doch lange nicht den Ertrag gibt, welchen eine durchaus vernünftig organisierte Produktion gäbe. Der Privatgrundbesitz hat eben nur seinen Sondervorteil im Auge. Ob der Ertrag groß oder klein, das Brot billig oder teuer – dem Landlord und Farmer ist's einerlei: wenn nur die »Profite« hoch sind; und bei hohen Brotpreisen, das heißt, wenn der Ertrag niedrig, sind die Profite ja bekanntlich am höchsten. Und solange der Grund und Boden Privateigentum ist, wird es nicht anders sein.
Man hört in England neuerdings vielfach von »freiem Land« reden. Lasse sich niemand durch diese Phrase irreführen! Es sind die radikalen Freihändler, welche diesen Ruf ausstoßen, und: freies Land! heißt nichts anderes als: das Land für die Bourgeoisie! Das Gesetz der Erstgeburt und andere auf die Erhaltung des Bodens in den Händen der »kleinen aber mächtigen Partei« der Landlords hinzielende Gesetze sollen abgeschafft und das Land »dem Volke freigegeben werden«. Das heißt: denjenigen aus dem Volke, welche mit Geld und Gut gesegnet sind und anderen schönen Dingen dieser Erde ein schönes Landgut hinzufügen möchten; und auch nicht »freigegeben«, das heißt, nicht gratis auf dem Präsentierteller, sondern für schweres, gutes, klingendes Geld. »Freies Land« ist die »freie Konkurrenz«, wie sie in Handel und Industrie herrscht, ausgedehnt auf das Grundeigentum: es ist die Vollendung des Werkes der Manchesterschule, die Eroberung Englands und der englischen Erde durch die Bourgeoisie. Es fehlt selbstverständlich nicht an Gimpeln, die sich durch das Wörtchen »frei« fangen lassen, doch sind diese Gimpel in England, wo der Bourgeoisliberalismus längst alle seine Karten ausgespielt und alle seine Versprechungen auf dem Prüfstein der unerbittlichen Praxis in ihrer Nichtigkeit zeigen gemußt hat, weit seltener als in unserem lieben Deutschland, das, trotzdem es vom »Denkervolk« bewohnt wird, auf ökonomischem Gebiet ebensoweit hinter England zurück ist wie auf politischem hinter Frankreich. »Freiheit« im Munde der Bourgeoisie heißt: Entfernung aller Fesseln und Schranken, welche die Bourgeoisie an Erringung der sozialen und politischen Weltherrschaft hindern. »Freiheit« heißt Herrschaft, und die Freiheit wird somit, da Herrschaft die Unfreiheit des Beherrschten zur notwendigen Voraussetzung hat, im Munde des Bourgeois in ihr Gegenteil verwandelt. Beiläufig hat das Wort Freiheit die nämliche Bedeutung im Munde aller Parteien, die nicht die vollständige Gleichheit aller Staatsbürger, sondern die Herrschaft, sei es einer Klasse, eines Standes oder einer Person erstreben. Freiheit der Bourgeoisie ist Herrschaft der Bourgeoisie, unbeschränkte Freiheit unbeschränkte Herrschaft. Die unbeschränkte Herrschaft ist überall das Ziel der Bourgeoisie; selbst in Deutschland, wo die Bourgeoisie sich so feig unter die Machthaber des Staats beugt, sucht sie den Staat sich ökonomisch dienstbar zu machen, ihn ökonomisch lahmzulegen. Sie stärkt ihn politisch, indem sie tatsächlich auf das Steuerbewilligungsrecht verzichtet und riesige Armeen bewilligt – freilich mit dem Hintergedanken, sie einst gegen die Arbeiterbataillone zu verwenden; und gleichzeitig sucht sie den Staat ökonomisch auf Null zu reduzieren, indem sie ihm die Domänen, die Eisenbahnen, die Bergwerke entreißt, ihm jedes industrielle Unternehmen verbietet. »Wir, die Bourgeoisie von Geldsacks Gnaden, haben das Monopol der ökonomischen Ausbeutung; uns gehört alle Produktion, uns gehört alles Eigentum, der Staat hat unser Monopol zu schützen; die, welche sich dagegen auflehnen sollten, erforderlichenfalls niederzukartätschen; aber darüber geht auch seine Aufgabe nicht hinaus. Begnügt sich der Staat nicht mit der Rolle unseres bezahlten Schutzmannes, erdreistet er sich, uns Konkurrenz zu machen, unser Monopol anzutasten, so verfehlt er seinen Beruf, verletzt er ›Recht‹ und ›Freiheit‹: ›unser Recht, unsere Freiheit‹!«
Das ist der Sinn des »freien Landes«, des Freihandels, der Industriefreiheit, des bürgerlichen »Rechtsstaats«, der ganzen Bourgeoisfreiheit.
Die Zahl der Landeigentümer in England vermindert sich von Jahr zu Jahr. Unmittelbar nach der normannischen Eroberung, 1066, betrug sie bei kaum einem Zehntel der heutigen Bevölkerung 40 000, wie aus dem Doomsday Book erhellt, und vor 200 Jahren, bei einer Bevölkerung von nicht 15 Millionen, 165 000. Innerhalb der letzten 200 Jahre ist die Bevölkerung von 14 œ Millionen auf 30 Millionen gestiegen, und die Zahl der Grundeigentümer, unter stetiger Abnahme, von 165 000 auf 30 000 gefallen. In diesem Zeitraum hat sich sonach die Zahl der Einwohner mehr als verdoppelt, die Zahl der Grundeigentümer um fünfhundertundfünfzig Prozent vermindert. Noch vor 200 Jahren kam ein Grundeigentümer auf 88 Einwohner; jetzt kommt ein Grundeigentümer auf 1000 Einwohner. Das sind Ziffern, deren Beredtheit durch keine Beredsamkeit gesteigert werden kann. Man pflegt diese zunehmende Konzentration des Bodens in den Händen weniger ausschließlich dem Erstgeburtsrecht und den die Zertrümmerung der großen Adelsgüter verbietenden oder doch sehr erschwerenden Gesetzen zuzuschreiben, allein mit Ungrund. Es wäre töricht zu leugnen, daß die erwähnten Gesetze auf die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse von bedeutendem Einfluß gewesen sind und wesentlich dazu beigetragen haben, die heutige englische Landaristokratie ins Leben zu rufen; auf der anderen Seite steht aber fest, daß bei der außerordentlichen kapitalistischen Entwicklung Englands die Aufsaugung des kleinen durch den großen Grundbesitz erfolgt wäre, auch wenn jene Gesetze nicht bestanden hätten. Der einzige Unterschied wäre gewesen, daß das Land den alten Adels-, das heißt durch die normannische Eroberung zum Grundbesitz gelangten Räuberfamilien und nach deren Aussterben oder Ausrottung in den Bürgerkriegen den neuen Adelsfamilien (gegründet von königlichen Günstlingen, Speichelleckern, Bankerten, Kupplern und sonstigem glänzenden, das heißt von Fäulnis phosphoreszierenden Menschenkot) – daß das Land ganz oder zum größten Teil dieser Adelskaste entrissen worden und in den Besitz der modernen Bourgeosie übergegangen wäre. Man beseitige die Primogenitur (das Erstgeburtsrecht und was drum und dran hängt), und das Grundeigentum wird zwar rasch die Hände wechseln, aber die von einigen geträumte Wirkung, das Entstehen eines freien Kleinbauernstandes, wird sicherlich nicht eintreten, ebensowenig wie die großen Kapitalien sich in kleine zerbröckeln, die großen Fabriken in kleine Werkstätten zusammenschrumpfen werden. Der Zug der ökonomischen Entwicklung geht in der entgegengesetzten Richtung. Nicht aus dem Großeigentum ins Kleineigentum, sondern umgekehrt aus dem Kleineigentum ins Großeigentum. Jeder Versuch, das englische Großgrundbesitzsystem zugunsten des französischen Parzellensystems aufzuheben, wäre ein gemeinschädlicher Rückschritt. Der Weg geht über den Privatgroßgrundbesitz und die Privatgroßproduktion überhaupt hinaus in die genossenschaftliche Großproduktion auf dem Gebiet des Ackerbaues und der Industrie.
Jedes falsche System erliegt seinen Konsequenzen.
Die letzte Konsequenz des Privatgrundbesitzes und der kapitalistischen Privatproduktion ist: Konzentrierung des Besitzes, der Reichtümer und der Macht in einer Hand. – Ein Landlord, der Herr allen Grund und Bodens, Herr aller Fabriken ist, die gesamte Ackerbau- und Industrie monopolisiert, alle Staatsbürger in seinem Lohn hat, die Preise aller Lebensmittel und sonstigen Waren nach Gutdünken regelt. Ein Hirt und eine Herde; ein Sklavenbesitzer, welcher durch seine Sklavenpeitscher seine Land- und Stadtsklaven an die Arbeit treiben läßt. Kurz, eine politische und ökonomische Abhängigkeit, neben der selbst die Lage der alten Ägypter unter den Pharaonen urdemokratisch erscheint.
Das ist der Gipfel, das Endziel, das erfüllte Ideal der modernen kapitalistischen Kultur! Aber zum Glück läßt sich der Satz »summum jus summa injustitia« auch umdrehen und wird die summa injustitia zum summum jus. Die auf die Spitze getriebene Ungerechtigkeit ist die Mutter der strafenden Nemesis und der sühnenden Gerechtigkeit.