Die eiserne Ferse. Jack London
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Читать онлайн книгу Die eiserne Ferse - Jack London страница 11
»Das bedeutet jährlich Hunderte und Tausende für die Aktionäre«, und ich musste an die letzte Dividende, die mein Vater erhalten, und an den herrlichen Mantel für mich und die Bücher für meinen Vater denken, die von ebendieser Dividende gekauft worden waren. Ich dachte an den Ausspruch Ernsts, dass an meinem Mantel Blut klebe, und ich begann unter meinen Kleidern zu zittern.
»Haben Sie bei Ihrer Aussage nicht betont, dass Jackson verunglückte, als er versuchte, die Maschine vor Schaden zu bewahren?« sagte ich.
»Nein«, lautete seine Antwort, und sein Mund presste sich bitter zusammen. »Ich sagte aus, dass Jackson seinen Unfall selbst verschuldet hätte, und zwar durch Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit, und dass die Gesellschaft in keiner Weise verantwortlich oder ersatzpflichtig sei.«
»War es denn Fahrlässigkeit?« fragte ich.
»Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Tatsache ist, dass ein Mann müde wird, wenn er stundenlang gearbeitet hat.«
Der Mann begann mich zu interessieren. Er stammte zweifellos aus einer höheren Klasse.
»Sie sind gebildeter als die Arbeiter im allgemeinen«, sagte ich.
»Ich habe das Gymnasium besucht«, erwiderte er. »Das ermöglichte ich, indem ich mich als Pförtner anstellen ließ. Ich wollte auf die Universität gehen. Aber mein Vater starb, und ich musste in die Spinnerei. Ich wollte Naturwissenschaft studieren«, erklärte er schüchtern, als gestände er eine Schwäche ein. »Ich liebe Tiere, aber ich musste in die Spinnerei. Als ich zum Werkführer aufrückte, verheiratete ich mich, und dann kam die Familie und — nun ja, da war ich eben nicht mehr mein eigener Herr.«
»Was meinen Sie damit?« fragte ich.
»Ich wollte Ihnen gerade erklären, warum ich vor Gericht aussagte, wie ich es tat — ich folgte Instruktionen.«
»Wessen Instruktionen?«
»Ingrams. Er schrieb mir die Aussage, die ich zu machen hatte, vor.«
»Und darum verlor Jackson seinen Prozess?«
Er nickte, und das Blut stieg ihm dunkel ins Gesicht.
»Und Jackson hat eine Frau und zwei Kinder zu ernähren.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig, aber sein Gesicht färbte sich noch dunkler.
»Sagen Sie mir«, fuhr ich fort, »wurde es Ihnen leicht, aus dem gebildeten Menschen, der Sie waren, zu dem Manne zu werden, der Sie geworden sein müssen, um das fertig zu bringen?«
Ich prallte erschrocken zurück, so unerwartet kam Gefühlsausbruch. Er stieß einen wilden Fluch aus und ballte die Fäuste, als wollte er mich schlagen.
»Verzeihen Sie«, sagte er im nächsten Augenblick. »Nein, es war nicht leicht. Und jetzt wird es am besten sein, wenn Sie gehen. Sie haben alles, was Sie wollten, aus mir herausgebracht . Aber ehe Sie gehen, möchte ich Ihnen noch eines sagen. Es würde Ihnen nichts helfen, wenn Sie etwas von dem, was Sie von mir gehört haben, weitersagen. Ich würde es leugnen, und Sie haben keinen Zeugen. Ich würde jedes Wort leugnen — wenn es sein müsste, unter Eid auf der Zeugenbank.«
Nach der Unterredung mit Smith ging ich in das Bureau meines Vaters im chemischen Laboratorium, und dort traf ich Ernst. Die Begegnung war ganz unerwartet, aber er begrüßte mich mit seinem kühnen Blick und seinem festen Händedruck und mit dieser eigentümlichen Mischung von Verlegenheit und Ungezwungenheit. Es schien, als hätte er unsere letzte stürmische Begegnung vergessen; aber ich war nicht in der Stimmung, sie zu vergessen.
»Ich habe den Fall Jackson verfolgt«, sagte ich unvermittelt.
Er wartete gespannt, dass ich weitersprechen sollte, aber; ich konnte in seinen Augen die Gewissheit lesen, dass meine Ansichten erschüttert worden seien.
»Man scheint ihm übel mitgespielt zu haben«, gestand ich. »Ich — ich — glaube, dass etwas von seinem Blute von unsern Dachbalken tropft.«
»Natürlich«, antwortete er. »Wenn man gegen Jackson und alle seine Genossen barmherzig gewesen wäre, würde die Dividende nicht so fett sein.«
»Ich werde nie mehr Gefallen an schönen Kleidern finden können«, fügte ich hinzu.
Ich fühlte mich gedemütigt und zerknirscht, und mich durchrieselte es süß, dass Ernst eine Art Beichtvater für mich war. Dann, wie später immer, stützte mich seine Kraft. Sie schien eine Verheißung von Schutz und Frieden auszustrahlen. »Und ebenso wenig werden Sie Gefallen an Sackleinen finden können«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kennen die Jutespinnereien, dort herrschen dieselben Zustände. Dort wie überall. Unsere viel gepriesene Zivilisation ist auf Blut begründet, mit Blut gesättigt, und weder Sie, noch ich, noch sonst irgend jemand kann es vermeiden, von diesem roten Blut befleckt zu werden. Wer waren die Leute, mit denen Sie sprachen?«
Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war.
»Und nicht einer von ihnen hatte Handlungsfreiheit«, sagte er. »Sie alle sind an die erbarmungslose Industriemaschine gefesselt. Und das Tragische dabei ist, dass sie alle mit ihrem Herzblut daran gefesselt sind. Ihre Kinder — es ist immer das junge Leben, das sie instinktiv schützen. Dieser Instinkt ist stärker als alle Ethik in ihnen. Mein Vater! Er log, er stahl, er tat alles mögliche Ehrenrührige, um Brot für mich und meine Geschwister zu schaffen. Er war ein Sklave der Industriemaschine, die ihn zerstampfte, ihn zu Tode hetzte.«
»Aber Sie«, warf ich ein. »Sie sind doch sicher frei in ihrem Handeln.«
»Nicht ganz«, erwiderte er. »Ich bin nicht durch mein Herzblut gefesselt. Ich bin oft dankbar, dass ich keine Kinder habe, und dabei liebe ich Kinder. Und doch würde ich mir keine wünschen, wenn ich verheiratet wäre.«
»Das ist ein schlechter Grundsatz«, rief ich.
»Ich weiß«, sagte er traurig, »aber für mich ist er angebracht. Ich bin Revolutionär, und das ist ein gefährlicher Beruf.«
Ich lachte ungläubig.
»Was würde Ihr Vater tun, wenn ich nachts bei ihm einzubrechen versuchte, um seine Dividenden von den Sierra-Spinnereien zu stehlen?«
»Er schläft mit einem Revolver auf dem Nachttisch neben sich«, antwortete ich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er Sie erschießen.«
»Und wenn ich und ein paar andere anderthalb Millionen Mann in die Häuser aller Wohlhabenden führen würde -es gäbe eine mächtige Schießerei, nicht wahr?«
»Ja, aber das würden Sie nicht tun«, bemerkte ich.
»Eben das will ich tun. Und wir haben