Seitensprungkind. Regula Brühwiler-Giacometti
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„Seitensprungkind“ ein bewusst provokativ formulierter Titel. Ich habe viel am Titel dieses Buches gebastelt, aber keiner konnte mich überzeugen. So lautete er zuerst „Giacomettis Adoptivtochter“ oder „Die ausgewählte Tochter“. Wie es zu „Seitensprungkind“ kam, kann ich im Nachhinein nicht erklären, es war ein plötzlicher Einfall, aber der Titel hat sofort all den wenigen Leuten, die ich in mein Projekt eingeweiht habe, und dem Verlag gefallen. Wie viele andere teile auch ich das Schicksal, eines dieser Kinder zu sein, die aus einer Affäre hervorgingen. Mein leiblicher Vater ging mit meiner leiblichen Mutter eine Affäre ein, er war bereits verheiratet. Diese Beziehung hatte Folgen: mich. Hatte er je erfahren, was seine heimliche Liebschaft hervorgebracht hatte? Weiß er, dass er auf diesem Planet noch eine Tochter hat? Vielleicht bin ich sogar seine einzige Tochter!
Das Thema Adoption ist und wird immer Interesse wecken. Spannend ist es auch, einen Blick weiter zurück in die Geschichte der Adoption zu werfen. Der Begriff Adoption kommt vom lateinisch adoptio. Diese Form der Annahme der Kinder war bereits im römischen Recht bekannt, also schon vor der Geburt Christus (vor über 2 000 Jahren!). Sie bezeichnet die rechtliche Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses zwischen dem Annehmenden und dem Kind ohne Rücksicht auf die biologische Abstammung. Gaius (Iulius) Caesar, geb. 20 v. Chr., war ein Adoptivsohn des römischen Kaisers Augustus und bis zu dessen Tod sein designierter Nachfolger. Von Augustus zu möglichen Nachfolgern bestimmt, wurden er und sein jüngerer Bruder Lucius 17 v. Chr. von diesem adoptiert. Gaius Caesar übernahm zahlreiche Ämter und Titel, unter anderem den des princeps iuventutis („Führer der ritterlichen Jugend“). 4 v. Chr. wurde er für das Jahr 1 n. Chr. zum Konsul designiert und Pontifex.
Früher musste ein Chinese, der keine männlichen Nachfahren hatte, einen Jungen adoptieren, damit seine Familie „Ruhe vor seinem Geist“ hatte. Adoptierte und Pflegekinder bevölkern die Mythen und Sagen vieler Kulturen: Moses lag in einem Weidenkörbchen auf dem Nil, aus dem ihn die Tochter des Pharaos rettete und den kleinen Jungen aufzog. Auch Ödipus’ Eltern haben einst ihren Sohn weggegeben.
Die Adoption, d. h. die Kindesannahme, ist ein Rechtsinstitut, das in vielen Rechtskulturen stets das Gleiche bezweckt hat, aber immer wieder aus anderen Motiven heraus entwickelt worden ist. Es geht um die Herstellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses. Der seiner Vergänglichkeit bewusste Mensch, dem Kinder und Erben versagt sind, möchte dank der Adoption in Nachkommen weiterleben. Er wünscht sich den Fortbestand seines Namens und seines Familienbesitzes. Früher diente das Institut der Adoption der Sicherung der Nachfolge.
In der schweizerischen Rechtstradition fand die Adoption erst Eingang durch die Aufnahme des römischen Rechts, und brachte die Einführung der Adoption in einigen Kantonen im 19. Jahrhundert. Die Wirkung bestand in allen Regelungen in der Schaffung eines Eltern-Kind-Verhältnisses. Erst 1907 wurde die „Annahme eines Kindes“ im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) aufgenommen, es handelte sich um die Form einer adoptio minus plena (weniger volle Adoption), die schon im römischen Recht vorgebildet war. Später, im Jahre 1973, trat dann, gestützt auf das Leitbild einer „Erziehungs- bzw. Fürsorgeadoption“ und unter Berücksichtigung internationaler Rechtsentwicklungen, das neue Adoptionsrecht in Kraft. Das Adoptionsrecht untersteht permanent Revisionen. So wurde in der Schweiz kürzlich die Stiefkindadoption für Ehepaare angenommen. Aktuell steht zur Diskussion, ob auch die Adoption für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt werden soll. Ob ein Kind unbedingt Mann und Frau als Eltern braucht, um sich gut entwickeln zu können, kann und möchte ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Das Wichtigste ist sicher, welche Voraussetzungen und Fähigkeiten mitgebracht werden.
Mein Buch widmet ein Kapitel dem Vergleich der Adoptionsverfahren von früher und heute. Bezugnehmend auf diese Thematik findet man hier die bewegende Adoptionsgeschichte einer Freundin von mir, die regelrecht ihrer leiblichen Mutter entrissen wurde. Diese Episode zeigt auf, wie man in den 60er-Jahren mit alleinstehenden Müttern umging. Auch dieses Kapitel wird mit der Erzählung von befreundeten Eltern, die in der heutigen Zeit ein Kind adoptiert haben, vervollständigt. Es sind rührende Erfahrungsberichte, die ich unbedingt in dieses Buch integrieren wollte.
Meine Kindheit, die schwierige Pubertät und die Midlifecrisis sind auch Teil dieses Buches. Zudem werde ich über meine Suche nach den leiblichen Eltern und meine spätere Identitätsfindung berichten. Zum Abschluss gewähre ich einen Einblick über meine Arbeit beim Gericht und der KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde), der mit einem Interview mit einer Fachrichterin ergänzt wird. Ich erzähle auch über meine langjährige Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin und werde über einige spektakuläre Gerichtsprozesse, bei denen ich übersetzt habe, berichten.
In meinem Buch befasse ich mich ausschließlich mit Inlandsadoptionen. Auslands- und internationale Adoptionen würden den Rahmen sprengen. Internationale Adoptionen sind sicher auch ein ganz spannendes Gebiet, wenn man bedenkt, dass zu meiner Jugendzeit ein riesiges Millionengeschäft entstanden ist und leider auch ganz viele Schwarzadoptionen getätigt wurden. Später wurden zum Glück die Bestimmungen in vielen Ländern, auch Drittländern, verschärft und eine bessere Kontrolle eingeführt.
Adoptieren ist auch heutzutage „in“, vielleicht momentan sogar eine Modeerscheinung, wie man bei so manchen prominenten Menschen beobachten kann. Das berühmteste und bekannteste Beispiel darunter ist sicher Angelina Jolie und Brad Pitt, die gleich drei Kinder zu sich holten. Nicht zu vergessen Madonna, die gar vier Kinder adoptiert hat. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich alle Menschen zuvor auch ernsthaft damit auseinandergesetzt haben, welch herausfordernde Aufgabe es ist, Kinder mit den verschiedensten Hintergründen aufzunehmen. Kinder sind keine Prestigeobjekte.
Es gibt aber auch viele Stars und bekannte Persönlichkeiten, die selbst adoptiert wurden, man denke da nur an Marilyn Monroe, Jack Nicholson, Eric Clapton, Mike Tyson und Nelson Mandela. Auch der deutsche Politiker Willy Brandt wurde unehelich geboren und lernte seinen Vater nie kennen. Adoptiert wurde auch der Apple-Gründer Steve Jobs. Also hat ein adoptiertes Kind durchaus Chancen, im Leben Erfolg zu haben!
Außerdem gibt es noch die unehelichen Kinder von bekannten Sportlern, Politikern und anderen prominenten Persönlichkeiten, bei denen man versucht hat, die Angelegenheit so lange wie möglich geheim zu halten. Wir alle erinnern uns an die Schlagzeilen über den Seitensprung von Boris Becker, der mit seiner „Besenkammeraffäre“, dem Model Angela Ermakowa, eine uneheliche Tochter zeugte. Doch früher oder später kommt die Wahrheit meist ans Licht. Gerade in diesem Jahr stand in einem Artikel der Aargauer Zeitung ein Ausschnitt aus einem Interview, das der ehemalige Schweizer Skirennfahrer Bernhard Russi etwa vor vier Jahren gegeben hatte: „Ich hatte nicht nur zwei Frauen in meinem Leben, ich war kein Kostverächter und kein Ministrant. In der Theorie ist es möglich, dass irgendwo ein Kind von mir auftaucht. Er oder sie wäre mindestens 45 Jahre alt. Ganz ehrlich, fast jeder Mann in meinem Alter müsste diese Antwort geben.“
Ich teile daher mein Schicksal als uneheliches Kind mit tausenden anderen. Das tröstet mich ein wenig. So gibt es viele andere, die nicht wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Neben den adoptierten und den aus einer unehelichen Beziehung entstandenen Kindern leben auch noch tausende Pflegekinder in der Schweiz in Heimen oder in Pflegefamilien. Es sind aktuell circa 18 000 Kinder, was ungefähr gut einem Prozent der Wohnbevölkerung im Alter zwischen 0 und 18 Jahren, nach Angaben der PACH (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz), für das Jahr