Seitensprungkind. Regula Brühwiler-Giacometti
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Es schien alles gut zu laufen, ich hatte mich in der neuen Familie offensichtlich bereits nach kurzer Zeit eingelebt, denn am 24. Februar 1959 verfasste meine Mami ihren zweiten Brief für Rapperswil:
„Endlich kommt wieder einmal eine Nachricht von unserer Regula. Ich lege Ihnen ein Phöteli bei, damit Sie sehen, wie unsere Tochter sich gemacht hat. Sie können sich kaum vorstellen, welche Freude wir an diesem ‚Chrötli‘ haben. Sie ist ein liebes, fröhliches Meiteli und bis jetzt entwickelt sie sich sehr gut. Regula wiegt schon 6,6 kg und vor 3 Wochen hat sie die erste Krankheit gehabt. Sie war stark erkältet und hustete viel und dazu kam noch Durchfall – also alles zusammen. Ich bin wirklich froh, dass diese anstrengenden Tage und fast schlaflosen Nächte vorbei sind. Auch mit dem Hautausschlag geht’s besser; es gibt Tage, wo man überhaupt nichts sieht, und plötzlich ist das Gesichtlein wieder ganz voll. Aber der Arzt sagt, dass dies mit der Zeit vollkommen weg geht. Regula ist ein ganz hübsches Meiteli geworden (die Haare sind zwar bald alle weg) und sie wird von ganz Cassarate bewundert. Sie hat immer einen guten Appetit und am Mittag isst Regula schon viel Gemüse. Entschuldigen Sie bitte meine Schrift, denn Regula sitzt bei mir und fuchtelt mit ihren Händchen immer nach dem Papier und gibt mir hie und da einen Stoss. Nach Ostern werde ich mit Regula für ca. 10 Tage nach Bern fahren. Im Fall Sie unser Meiteli eventuell sehen möchten, kann ich Ihnen noch genau berichten, wann ich in Arth-Goldau vorbeifahre. Ich wünsche Ihnen schöne Ostertage und alles Gute, Ihre Hedi Giacometti“.
Am 30. April 1959, da war ich seit knapp 5 Monaten in der Familie Giacometti und bald 7 Monate alt, informierte meine Mami wiederum die Adoptionsvermittlungsstelle über den Verlauf:
„Endlich kommen wieder einmal zwei Phöteli von unserer Regula. Nicht wahr, sie ist ein herziges Schätzeli geworden? Letzte Woche bekam sie ihre zwei ersten Zähnchen (unten), zum Glück ohne Schmerzen. Bald, bald kann sie allein sitzen und im ‚Yompa-la‘ springt sie rückwärts schon durch die ganze Wohnung. Regula wiegt nun 7,8 kg und für ihr Alter ist sie sehr lang. Jeden Tag macht sie nun grosse Fortschritte; sie lacht und jauchzt den ganzen Tag. An diesem Kindlein haben wir wirklich riesige Freude. Durch ihre sonnige Art hat sie sich schon zum Liebling von ganz Cassarate gemacht! Indem ich Ihnen alles Gute wünsche, grüsse ich Sie herzlich.“
Es war für mich sehr rührend, als ich diese Briefe im Alter von 57 Jahren zum ersten Mal las. Tränen rollten über meine Wangen. Ich schien von meinen Adoptiveltern voll akzeptiert worden zu sein und sie hatten große Freude an mir. Aber wie fühlte ich mich bei ihnen? Wie sah es in meiner Seele aus? Was verdeckte mein Lachen und Jauchzen den ganzen Tag? Auf jeden Fall sah es von außen so aus, dass es mir gut ging, und ich möchte auch nicht daran zweifeln.
Kurz nach meinem ersten Geburtstag folgte im November 1959 ein weiterer Brief von meiner Mami an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon seit einiger Zeit haben Sie nicht mehr von uns gehört. Wie Sie auf den Phöteli sehen können, wird unsere Regula immer herziger und sie kann jetzt schon laufen. Sie macht jeden Tag Fortschritte und wir haben grosse Freude an unsere Regula. Vor sechs Wochen hatte Regeli hohes Fieber und Halsweh und seit da schläft sie in der Nacht sehr schlecht. Es kann sein, dass es vom Penicillin ist, welches in der Medizin war und ev. hat auch die Kinderlähmungs-Einspritzung eine nachteilige Wirkung. Sie wurde vom Arzt gründlich untersucht, aber es scheint nur eine vorübergehende Störung zu sein. Bis jetzt konnte ich mich ja wirklich nicht beklagen, denn ausser dieser Schlaflosigkeit war Regula ein ganz liebes, braves Meiteli. Bestimmt wird auch diese Zeit bald vorbeigehen und dann werde ich mein Schlafmanko wieder gründlich aufholen. Regeli hat nun schon sieben Zähnli, drei unten und vier oben, und sie wiegt 10 kg. Für 13 Monate ist sie sehr gross. Auch die Haare werden langsam länger und wie Sie auf dem Photo sehen können, bekommt Regeli herzige ‚Chruseli‘. Ich finde wirklich, dass es kein hübscheres Meiteli gibt als meine Tochter! Ihrem Unternehmen wünsche ich weiterhin alles Gute und grüsse Sie alle herzlich, Ihre Hedi Giacometti“.
Ich war oft krank und hatte massive Schlafstörungen. Meine Mami hat mir viel von jener Zeit berichtet. Sie sagte mir, ich schlief praktisch nie, den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb ich wach. Meine Mami und mein Papi erzählten mir, dass sie im Turnus während der Nacht wach geblieben sind: bis 2 Uhr morgens wachte mein Papi über mich, dann übernahm meine Mami. Es war eine herausfordernde und nervenaufreibende Situation. Sie suchten Rat beim Hausarzt, doch auch er konnte sich die Ursache offenbar nicht genau erklären. Auch nach einer gründlichen Untersuchung konnte er keine ersichtliche Krankheit feststellen. Die Vermutung lag nahe, dass es eine Reaktion auf das Penicillin war oder eventuell durch die Kinderlähmungsimpfung ausgelöst worden sei. Der Arzt war der Meinung, dass es sich sicher bald wieder normalisieren würde. Doch er sollte nicht recht behalten: Dieser Zustand dauerte etwa 9 Monate an und meine Eltern erzählten mir immer wieder, dass ich während dieser Zeit nie geschlafen hätte. Als sie erneut den Hausarzt aufsuchten, glaubte er ihnen nicht. Er sagte: „Kein Mensch überlebt so lange Zeit ohne zu schlafen.“ Und so fühlten sich meine Adoptiveltern alleingelassen. Es war wirklich eine schreckliche Zeit für sie.
Durch die ständige Unruhe entwickelte meine Mami in dieser Zeit eine Schlafstörung, und sie erhielt vom Arzt dann die ersten Schlafmittel, die auf dem Markt zu haben waren. Was damals noch nicht bekannt war: Diese Tabletten machten abhängig, und auch meine Mami wurde ihr Opfer und kam ein Leben lang nicht von diesen Medikamenten los. Tragisch. Sie sagte dann immer zu mir, dass ich daran schuld wäre, dass sie mit diesem Zeug angefangen hätte. Ich nehme ihr diese Vorwürfe nicht übel und weiß, sie wollte mich damit nicht verletzen und suchte nur nach einer Entschuldigung für ihre lebenslange Medikamentenabhängigkeit.
Am 8. März 1960 wurde ich von meinem Papi mit gerichtlicher Urkunde und Adoptionsvertrag adoptiert und habe seinen Familiennamen angenommen. Der Heimatort blieb noch der alte, so wie das Gesetz es damals vorsah. Die Behörden stellten mir aber einen neuen Geburtsschein aus, auf dem ich als Regula Giacometti eingetragen war. Ich war nun in meine neue Familie „wiedergeboren“, mit neuer Identität und einer neuen Identifizierung durch eine neue Geburtsurkunde – als ob ich in die Familie Giacometti hineingeboren worden wäre.
Am 6. Mai 1960, als ich bereits 1 ½ Jahre alt war, schrieb meine Mami Folgendes an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon lange Zeit haben Sie nichts mehr von uns gehört, dies will ich nun schnellstens nachholen. Wie Sie wahrscheinlich gehört haben, ist Regula inzwischen ein ‚Giacometteli‘ geworden und wir sind natürlich glücklich, dass Regeli nun ganz uns gehört. Sie ist immer noch ein liebes, herziges Meiteli und sie macht uns wirklich viel Freude. Leider schläft sie immer noch nicht, wie sie sollte; in der Nacht erwacht sie öfters und schreit, dass die ganze Nachbarschaft Konzert hat. Ich weiss nun nicht, ob dies mit den Zähnen zusammenhängt und ich hoffe sehr, dass Regula bald wieder besser schläft. Auch hat sie zwei schlimme Anginas gehabt; dies ist der schwache Punkt von unserer Tochter, denn, wie der Doktor sagt, hat sie schon jetzt schlimme Mandeln. Auf Rat vom Doktor, werden wir im Juni Regula nach Silvaplana geben, ein privates Kinderheim (sie nehmen nur 3–4 Kinder), während wir dann am Meer Ferien machen werden. Im Juli nehme ich sie dann mit mir nach Maloja, wo wir einen Monat Ferien machen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie freundlich, H. Giacometti“.
Ich hatte immer noch Schlafstörungen und war des Öfteren krank, was sicher auch bei nicht adoptierten Kindern in diesem Alter der Fall sein kann. Ich erwachte viel in der Nacht und schrie laut. Wollte ich vielleicht meine Adoptiveltern testen, ob sie wirklich immer kommen und für mich da sind, wenn ich mich nicht wohl fühle oder Angst habe? Das Schreien in der Nacht zwang meine Eltern, mich aus dem Bettchen zu nehmen und mich zu beruhigen, da ich sonst die ganze Nachbarschaft aufgeweckt hätte.
Weil ich so oft Angina hatte, wurde ich auf Rat des Hausarztes für vier Wochen in ein privates Kinderheim in Silvaplana gebracht. Offenbar waren meine Adoptiveltern mit mir überfordert. Ich war erst 1 ½ Jahre alt, und schon wieder stand mir eine Trennung bevor. Was ging wohl