Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Die Feststellung der Staatszentriertheit der Allgemeinen Staatslehre mag auf den ersten Blick banal erscheinen – wie sollte es bei einer Wissenschaft anders sein, die den Staat schon im Namen trägt? Gleichwohl geht mit ihr eine Begrenzung des zu behandelnden Gegenstandes einher, gerade im Vergleich zu den Wirtschafts-, Politik- sowie anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Diese können und müssen Teil einer Allgemeinen Staatslehre nur sein oder tragen zu dieser nur bei, soweit es um Fragestellungen geht, die in einer Nähebeziehung zum modernen Staat oder zur Staatlichkeit stehen. Diese Wissenschaften weisen zur Allgemeinen Staatslehre also Schnittmengen auf, überlappen sich mit dieser aber nicht vollständig. Welcher Art und wie konkret diese Nähebeziehung ausgestaltet sein muss, bleibt offen und lässt sich nicht abschließend angeben. Tatsächlich gibt es – wie Georg Jellinek treffend formuliert – kaum ein „Gebiet menschlicher Gemeintätigkeit, das nicht in Beziehungen zum Staate stünde“.[19] Hier dürfte ein Grund für die abweichenden Inhalte der Lehrbücher zur Allgemeinen Staatslehre und die divergierenden Forschungsfragen liegen. Welche Nähebeziehung als ausreichend, welche Berührungspunkte als unerheblich eingeordnet werden, wird nicht einheitlich beurteilt. An der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Allgemeinen Staatslehre von den anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ändert dieser Befund jedoch nichts, oder anders: Die Allgemeine Staatslehre geht nicht vollständig in diesen anderen Wissenschaften auf,[20] so wie auch diese nicht in der Allgemeinen Staatslehre aufgehen. Es ist vor diesem Hintergrund kein Widerspruch, wenn das zu skizzierende Forschungsprogramm auch gesellschaftliche Gruppierungen und Phänomene (etwa Gewerkschaften, internationale Unternehmen und Investmentfonds, Geschäftsbanken, Bürgerinitiativen [„Fridays for Future“] oder Rundfunk, Fernsehen und soziale Medien) in den Blick nimmt, solange zu jedem Zeitpunkt verdeutlicht wird, woraus sich – nach Ansicht des Verfassers – die spezifische Nähebeziehung zum Staat oder zum Phänomen Staatlichkeit ergibt.
|5|Die Untersuchung des Staates erfolgt nicht nur empirisch betrachtend, sondern zugleich normativ bewertend; es geht mit Hans Herbert von Arnim darum, zu beschreiben, zu erklären, zu bewerten und zu kritisieren sowie um das Entwickeln von Verbesserungsvorschlägen.[21] Die Allgemeine Staatslehre ist Seins- und Sollenswissenschaft zugleich.[22] Die ausschließliche Beschreibung des Bestehenden, gewissermaßen der „staatlichen Tatsachen“, wäre zwar möglich. Und es steht außer Frage, dass mit der damit einhergehenden Systematisierung der weltweiten Staatenvielfalt und der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ein Mehrwert verbunden wäre. Die unterschiedlichen Formen moderner Staatlichkeit und die historisch-pfadabhängigen Wandlungsprozesse (nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent)[23] sind auch für ExpertInnen kaum noch zu überblicken. Der Staat ist nicht statisch, sondern „Prozess“,[24] mehr „atmende(s) Wesen als statische Konstruktion“,[25] was sich in der Coronapandemie in besonderer Weise gezeigt hat. Eine solche, rein beschreibende und ordnende Allgemeine Staatslehre verlöre aber ihren Charakter als kritische Wissenschaft, schrumpfte zur „positivistischen Begleitwissenschaft“ und wäre in einer solchermaßen faden und blutleeren Form nicht in der Lage, Impulse für die Entwicklung der Staaten zu liefern und Fehlentwicklungen zu thematisieren. Eine solche Allgemeine Staatslehre könnte mit jeder Ausprägung von Staatlichkeit leben – der Staat und die Staatenwelt wären wie sie sind: Der Hobbes’sche Leviathan mal mehr und mal weniger gebändigt, mal gewalttätig, mal schwach bis zur Bedeutungslosigkeit. Für eine neutrale Allgemeine Staatslehre stellten sich daran anknüpfende Fragen nicht. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Erosion des demokratischen Verfassungsstaates,[26] ja sogar die Entstehung neuartiger autoritärer Staatsformen wäre für sie lediglich Anlass zur Anpassung der gefundenen Ergebnisse aber niemals Ausgangspunkt für Kritik oder (lautstarke) Empörung. Eine solche Allgemeine Staatslehre aber kann es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) geben:[27] „Staatslehre muss auch kritisch sein“.[28] Ähnlich |6|formuliert Herbert Krüger: „Eine Staatslehre lässt sich gewiss nicht ohne inneres Beteiligtsein schreiben, um von dem Sinn für Staatlichkeit und ihre Würde ganz zu schweigen.“[29] Wo Menschen gefoltert, Meinungen unterdrückt, JournalistInnen inhaftiert, Medien behindert und Oppositionelle gegängelt werden, darf eine moderne Allgemeine Staatslehre nicht in unparteiischer Lethargie, Langeweile und Beliebigkeit verharren. Auch die Auswirkungen des vorherrschenden Wirtschaftssystems auf den sozialen Zusammenhalt wird sie nicht unkommentiert lassen können. Allgemeine Staatslehre ist nicht wertneutral, ohne dass dazu Übereinstimmung in der Ausgestaltung des normativen Referenzmodells bestehen müsste, an dem die reale Staatenwelt gespiegelt wird. Es ist aber Aufgabe einer jeden Allgemeinen Staatslehre ein Referenzmodell anzubieten und zur Diskussion zu stellen.[30] Nach hier vertretener Ansicht kommt allein der (denationalisierte)[31] demokratische Verfassungsstaat[32] als Referenzmodell in diesem Sinne in Betracht.[33] Nur dieser geht von der gleichen (politischen) Freiheit aller – dem demokratischen Grundversprechen – sowie der unveräußerlichen Menschenwürde jedes Individuums unabhängig von Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung oder sexueller Orientierung aus.[34] Seine Struktur, Ausgestaltung und Charakteristika sollten daher auch im Forschungsprogramm der Allgemeinen Staatslehre im Zentrum stehen. Beide Ebenen – also die tatsächliche und die normative Ebene – gilt es freilich in der Darstellung durchgehend und deutlich erkennbar voneinander zu scheiden: „Stets sollte also klar sein, ob eine Aussage die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt oder sie kritisch bewertet und eine bessere Alternative vorschlägt, kurz, ob man von dem spricht, was ist, oder von dem, was sein soll.“[35]
Die Einigkeit im Hinblick auf ihren zentralen wissenschaftlichen Gegenstand – den Staat – darf nicht mit einer wissenschaftlichen Einigkeit hinsichtlich des zugrundeliegenden Staatsbegriffs verwechselt werden. Angesichts „der Mannigfaltigkeit, die der Staat darbietet“[36] ist dieser Befund nicht |7|überraschend – „der Staat“ kann nicht nur auf unterschiedliche Weise betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Art definiert werden:[37] „Man kann sehr Verschiedenes als ‚Staat‘ bezeichnen.“[38] Tatsächlich bildet die Frage nach dem Wesen des modernen (neuzeitlichen) Staates und den diesen prägenden Merkmalen einen zentralen Diskussionspunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre.[39] Sie bleibt ein zentraler Forschungsbereich und dürfte es angesichts des steten Wandels von Staatlichkeit und neuartiger Herausforderungen (Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung) dauerhaft bleiben.[40] Auch die unten (und zuvor bereits an anderer Stelle)[41] präsentierten historischen Wesensmerkmale, die den modernen Staat der Neuzeit prägen und von vorherigen staatlichen (oder staatsähnlichen) Gemeinwesen unterscheiden, sind nur eine Momentaufnahme. „It may seem curious that so great and obvious a fact as the state should be the object of quite conflicting definitions, yet such is certainly the case.“[42] Auch insoweit ist es dem Verfasser überlassen, sich „seinen modernen Staat zu schaffen“ oder (in den Worten Egon Friedells) gerade im Hinblick auf die staatliche Entwicklungsgeschichte seine „Legende“ über den modernen Staat zu erzählen[43] und in den Diskurs einzupflegen – stets in kritischer Auseinandersetzung mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart vorzufindenden Vorschlägen, Ansätzen und Ideen.[44]
Fußnoten
B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1, Rn. 1.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9.
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16.
H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.