Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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II. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft
Die Allgemeine Staatslehre ist zweitens eine interdisziplinäre Wissenschaft.[45] Dieser Umstand wurde bereits erwähnt und ergibt sich daraus, dass es der Allgemeinen Staatslehre um eine umfassende Beschreibung des Staates (der |8|Staatlichkeit), des „gesamten politisch-administrativen Systems“[46] geht. Eine solche – anspruchsvolle[47] – Aufgabe verlangt, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen.[48] Andernfalls muss die Erfassung des Staates in seiner Gesamtheit scheitern: „Staatslehre ist heute interdisziplinär oder sie ist überhaupt nicht.“[49] Oder in den Worten von Christoph Möllers: „Die Allgemeine Staatslehre ist eine eigene Disziplin zur Zusammenführung anderer Disziplinen.“[50] Zu betonen ist freilich: In dieser Zusammenführung erschöpft sie sich nicht. Ohnehin ist auch eine solche Zusammenführung eine wissenschaftliche Leistung, die zu Ergebnissen führen kann, die über diejenigen der Einzelwissenschaften hinausgehen.[51] Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Allerdings ist mit dieser Feststellung der Interdisziplinarität noch nicht beantwortet, welche Wissenschaftsdisziplinen bei der Allgemeinen Staatslehre zusammenkommen (sollen) und mit welcher Methode, in welchem Umfang und mit welchem wissenschaftlichen Ziel eine solche Zusammenführung durchzuführen wäre. In der Forschungswelt besteht hier erneut keine Einigkeit, teilweise wird bestritten, dass die angestrebte Vereinigung zu einer „neuen wissenschaftlichen Form“[52] überhaupt gelingen kann. Das Ob und das Wie der methodenpluralistischen[53] Integration der verschiedenen Teilwissenschaften sind jedenfalls zu einem gewissen Umfang der Willkür und damit den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Verfassers überlassen – ein weiterer Grund, warum sich die Lehrbücher so deutlich voneinander unterscheiden. Wer sich neben der Rechtswissenschaft auch in der Ökonomie zu Hause fühlt, wird wirtschaftswissenschaftliche Aspekte stärker integrieren[54] als jemand, der vor allem an soziologischen Fragestellungen interessiert ist. Oftmals dürfte auch der Zufall eine Rolle spielen: Schon angesichts des Umfangs der Abhandlungen, die in dem erforderlichen Näheverhältnis zum modernen Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa, weil |9|sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[55] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[56]
Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[57] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[58] Hinzu treten die politische Philosophie[59] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[60] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[61] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[62] anzusehen ist.[63] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im |10|Zentrum stand)[64] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so, wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[65] Angesichts dieser doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[66] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[67] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung, zumindest aber Verwunderung sorgen dürfte.
Dieser interdisziplinäre Ansatz, bei dem normative und sozialwissenschaftliche Vorstellungen und Kontexte zusammenkommen, grenzt die Allgemeine Staatslehre vom (vergleichenden) Staatsrecht und vom (vergleichenden) Verfassungsrecht ab, denen die normativ-dogmatisch (rechtliche) Analyse einer bestimmten Staats- und Verfassungsordnung respektive der normative (rechtliche) Vergleich mehrerer Staats- und Verfassungsordnungen obliegt.[68] Die Allgemeine Staatslehre geht in diesen normativen Verfassungsvergleichswissenschaften nicht auf, die daher auch nicht an ihre Stelle treten können. Vergleichbar ist sie im anglo-amerikanischen Raum am ehesten mit der unter anderem von Ran Hirschl wiederbelebten Disziplin „Comparative |11|Constitutionalism“,[69] die im anglo-amerikanischen Raum auch (aber nicht ausschließlich)[70] von RechtswissenschaftlerInnen betrieben wird.[71]
Fußnoten
Vgl. auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 16 ff.
H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (158).
Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 10.
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
Dass die Zusammenführung gegenwärtig mehr oder weniger methodenfrei abläuft ist allerdings ein Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Siehe dazu sogleich.
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.