Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
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Prognosen in den Sozialwissenschaften haben im Gegensatz zu den Naturwissenschaften die Eigenschaft, dass sie Einfluss auf das Verhalten der Menschen und Institutionen haben. Wenn eine Gefahr also erkannt bzw. eine Entwicklung prognostiziert ist, kann etwas dagegen getan werden. Wünschen wir uns also viele schlechte Vorhersagen, die nicht eintreten werden, weil wir sie nicht eintreten lassen.
Diskutiert wurde im Sommer 2020, dass der „Corona-Schock“ eine Entwicklung hin zu einem bipolaren Macht- und Weltwirtschaftssystem mit den USA und China als Blockanführer beschleunigt. Hier sollten bei uns alle Alarmglocken läuten. Die Europäische UnionEuropäische Union/EU ist trotz des Austritts Großbritanniens Anfang 2021 mit ca. 450 Millionen Menschen einer der reichsten Teile der Welt und es ist nicht wirklich einsehbar, warum wir zukünftig Anhängsel der USA oder Chinas werden sollten. Wie schon der Brexit die verbleibenden Staaten der EU zusammenrücken ließ, ist zu hoffen, dass der USA-China-Konflikt den gleichen Effekt haben wird. Dies und der Bestand der EU sind fraglos keine Selbstläufer, sowohl die USA als auch China sammeln ihre Truppenteile.
Wir werden uns also nach den besten Monaten für die Umwelt seit gefühlten Ewigkeiten wieder mit Fragen der Klimakrise (die besser als Umweltkrise verstanden und bezeichnet werden sollte) und der Energiewende, der Bildungs-, Einkommens- und Verteilungsgerechtigkeit und der individuellen Freiheitsrechte sowie der zukünftigen Beschaffenheit der Europäischen Union beschäftigen müssen. Fragen, inwieweit das Bruttoinlandsprodukt und a priori mit ihm verbundene WachstumWachstumsraten ein vernünftiges Maß für die wirtschaftliche Prosperität darstellen, werden nachdrücklicher gestellt werden müssen. Wir werden uns also fragen müssen, ob unser Lebens- und Arbeitsstil, auf allen Ebenen, angemessen ist. Der Staat bzw. seine Wirtschaftspolitik kann und muss hier meiner Überzeugung nach entscheidende Anreize zur Steuerung von individuellem „vernünftigen“ Verhalten liefern, er kann und darf den Individuen aber nicht das Denken und Tun abnehmen.
Krisen bringen immer auch Krisenbewältiger hervor; sie sind das Elixier für außergewöhnliche Lokalpolitiker (denken Sie z.B. an Helmut Schmidts Reaktionen auf die Hamburger Sturmflut im Jahre 1962) und lokal verwurzelte Unternehmer. Wie wäre es hier zum Beispiel mit Oskar Schindler (dem aus „Schindlers Liste“)?
Wir werden, überall auf der Welt, Menschen sehen, die Verantwortung übernehmen und von deren Existenz vorher zumeist nichts oder wenig bekannt war. In einer echten Krise kann man nicht bluffen. Nehmen Sie Ihr Leben also, soweit Ihnen dies gegeben ist, in die eigenen Hände und übernehmen Sie Verantwortung für sich und andere.
Wo Menschen sind, kann es keine absolute Objektivität und Neutralität geben. Ich habe mich, soweit es mir möglich war, bemüht, neutral zu beschreiben und zu berichten und damit grob dem aus dem Rechtsstudium bekannten Gutachterstil zu genügen. Jedem der 15 Hauptkapitel habe ich aber einen Exkurs angefügt, in dem ich diese Strenge teilweise aufgegeben habe, da ich der Überzeugung bin, dass ein brauchbares Buch über Wirtschaftspolitik eine emotionale Komponente haben muss.
Ich würde mich, obwohl ich seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wirtschaftswissenschaftler arbeite, immer noch als „ökonomisch bewanderten Mathematiker“ bezeichnen. Eine formale Ausbildung ist in der modernen Volkswirtschaftslehre nicht unbedingt von Nachteil: Im Laufe meines Lebens bin ich aber, wie viele Menschen vor und sehr sicher auch nach mir, zu der Überzeugung gelangt, dass die aktuelle Ökonomie „übermathematisiert“ ist; dass aber andererseits die Rolle von Mathematik und Statistik als Hilfsmittel zum Verständnis der Gesellschaft unzureichend entwickelt sind. Ein Vorteil eines Seiteneinsteigers ist, dass sein Blick kritischer und auch klarer sein mag. Ohne den Kapitalisten Friedrich Engels hätte es kein Kommunistisches Manifest gegegeben und dem Anfang September 2020 jung verstorbenen Anthropologen David Graeber verdanken wir wesentliche Erkenntnisse zur Rolle des Geldes und der Schulden in der Geschichte der Zivilisationen.
Ich bin weder studierter Philopsoph noch Historiker, sondern schreibe hier auch über Dinge, von denen ich „nicht zertifiziert“ etwas zu verstehen glaube. Da alles mit allem zusammenhängt, bräuchten wir vermutlich Dutzende Autoren für einen Text wie diesen, um formale Angriffe auszuschließen. Das Buch könnte dann immer noch lausig sein! Es fällt mir somit leicht, zuzugestehen, dass alle Fehler, die dieses Buch beinhaltet, mir allein zuzurechnen sind.
1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs
1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung
Die deutsche Gesellschaft steht in einer sich rapide verändernden Welt vor gewaltigen Herausforderungen, die, da alles mit allem verbunden ist, nicht monokausal beantwortet und ebenso nicht auf Deutschland isoliert bezogen, sondern zunächst im Kontext der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen UnionEuropäische Union/EU und nachfolgend im „Weltmaßstab“ analysiert werden müssen.
Inzwischen ist schon wieder fast vergessen, dass vor Beginn der Corona-Krise aus Griechenland und aus Spanien bis zum Beginn des Jahres 2020 hoffnungsvolle Signale zur Wirtschaftsentwicklung kamen: Die Europäische Union befindet sich aber nicht wieder, sondern immer noch in einer langandauernden veritablen Krise. Man darf hier durchaus das Jahr des Ausbrechens der letzten großen FinanzkriseFinanzkrise, 2008, als einen sinnvollen Bezugspunkt wählen.
Die staatliche und private Verschuldung hatte bereits vor der Corona-Krise in vielen Ländern (nicht nur in der EU) ein Vielfaches der Jahreswirtschaftsleistung angenommen. „Staatstragende“ Parteien waren vielerorts in der Defensive bzw. verschwunden. Dies betrifft nicht nur Griechenland, sondern ebenso Italien, Spanien, GroßbritannienGroßbritannien, Polen und Frankreich (dort wurde der Schritt der Pulverisierung der Altparteien bereits mit den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 vollzogen), um nur einige „größere“ europäische Länder zu nennen. Nach einer kurzen Umfragehochphase zu Beginn der Corona-Seuche im Frühjahr 2020 folgte für CDU und CSU der Absturz bei der Bundestagswahl 2021 und es ist überhaupt nicht klar, ob und wie CDU, CSU und SPD in den kommenden Jahren ihre Rollen als Volksparteien verteidigen können.
Zu den zahlreichen Wirtschaftswissenschaftlern, die die Hauptverantwortlichkeit des Staates darin sehen, Beschäftigung für die arbeitsfähige und -willige Bevölkerung zu schaffen, zählen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und ebenso die deutschen Ökonomen Peter Bofinger und der besonders prominente „Ordnungspolitiker“ Hans-Werner Sinn. Unterschiedlich sind allerdings zum Teil die Vorschläge, wie dies zu erreichen sei. Wenn Sie diese Maxime ebenso ernst nehmen wie die genannten Ökonomen, werden Sie schnell zu dem Schluss kommen müssen, dass zahlreiche Staaten in der EU ihren zentralen Aufgaben schon seit Langem nicht oder nur unzureichend nachkommen.
Die europäische Dauerkrise, die durch hohe Arbeitslosigkeit, international vielfach nicht wettbewerbsfähige Produktivitäten und damit sinkenden Wohlstand charakterisiert ist, stärkt einerseits „populistische“ Parteien. Diese werden hier so gefasst, dass von ihnen (zu) „einfache“ Lösungen für die äußerst komplexen miteinander verwobenen Problemkreise angeboten werden. Ebenso gestärkt werden andererseits separatistische Bewegungen wie z.B. in Schottland, in Norditalien, im Baskenland und in Katalonien. Grundsätzlich ist mittelfristig weder die EU, wie wir sie kennen, noch der Bestand der Gemeinschaftswährung Euro garantiert.
Wir befinden uns derzeit in einer dritten Phase der aktuellen europäischen Krise: Zuerst wurden Finanzinstitute gerettet, dann Staaten. Nun werden die politischen (Rück-)Wirkungen sichtbar, wobei bei Weitem nicht klar ist, ob sich alle unsere europäischen Partner in demokratischer Art und Weise reformieren werden können und wollen.
Alle diese Probleme sind mit der Entwicklung der Bevölkerungen verbunden. Aus diesem Grunde werden wir unsere Betrachtungen mit einer Darstellung und Analyse der demografischen Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland eröffnen.