Indiana. George Sand
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Demungeachtet bemächtigte sich Indianas bei dem Gedanken an Ramière ein Gefühl des Schreckens. Sie fürchtete für den Mann, der mit ihrem argwöhnischen, rachsüchtigen Gatten einen Kampf auf Leben und Tod beginnen würde. Das schüchterne Wesen, das nicht zu lieben wagte, aus Furcht, ihren Geliebten dem Tode preiszugeben, dachte nicht an die Gefahr, sich selbst ins Verderben zu stürzen. Am folgenden Tage faßte sie den Entschluss, Herrn von Ramière zu vermeiden. An demselben Abend gab einer der ersten Bankiers von Paris einen Ball. Frau von Carvajal wollte ihre Nichte hinführen; aber in der Befürchtung, Raymon dort zu treffen, gelobte sich Indiana, nicht hinzugehen. Zum Schein nahm sie den Vorschlag an. Als aber Frau von Carvajal in voller Toilette in das Zimmer ihrer Nichte trat, um sie abzuholen, erklärte Indiana, daß sie unwohl sei und sich kaum auf den Füßen halten könne. »Ich würde Ihnen nur Verlegenheiten bereiten,« sagte sie. »Gehen Sie ohne mich auf den Ball, gute Tante.« »Ohne dich?« fragte Frau von Carvajal, welche ihre Toilette nicht umsonst gemacht haben wollte, »was soll ich alte Frau denn in der Gesellschaft, ohne die schönen Augen meiner Nichte, die mir erst Wert geben?«
»Ihr Geist wird den Mangel derselben ersetzen, liebe Tante,« entgegnete Indiana.
Die Marquise von Carvajal, die nichts weiter verlangte, als sich überreden zu lassen, ging allein. Und jetzt verbarg Indiana ihr Gesicht in ihre beiden Hände und begann zu weinen; denn sie hatte ein großes Opfer gebracht.
Das erste, was Raymon auf dem Balle erblickte, war die alte Marquise. Vergeblich suchte er aber in ihrer Nähe das weiße Kleid und die schwarzen Haare Indianas.
»Meine Nichte ist krank,« hörte er die Marquise zu einer anderen Dame sagen, »oder vielmehr, sie hat die Laune, allein zu Hause bleiben zu wollen, ein Buch in der Hand, um sich sentimentalen Träumereien hinzugeben.«
»Sollte sie mich vermeiden wollen?« dachte Raymon. Sogleich verließ er den Ball und eilte in die Wohnung der Marquise. Dort fragte er den Diener, den er schlaftrunken im Vorzimmer fand, nach Frau Delmare.
»Die gnädige Frau ist krank.«
»Ich weiß es. Ich komme, um mich im Auftrage der Frau von Carvajal nach ihrem Befinden zu erkundigen.«
»Ich werde die gnädige Frau davon benachrichtigen ...«
»Das ist überflüssig; Frau Delmare empfängt mich.«
Und Raymon trat ein, ohne sich anmelden zu lassen. Alle anderen Diener waren zu Bette gegangen. Eine einzige, mit einem grünen Schirme bedeckte Lampe erhellte schwach den großen Saal, Indiana hatte der Tür den Rücken gewendet, in einem großen Lehnstuhl sitzend, sah sie trüb den Flammen im Kamin zu.
In seinen Ballschuhen näherte sich Raymon unhörbar auf dem weichen Teppich. Er sah sie weinen, und als sie den Kopf wandte, fand sie ihn zu ihren Füßen, mit Heftigkeit ihre Hände fassend, die sie vergeblich ihm zu entziehen suchte. Im Nu war ihr Vorhaben, ihn aufzugeben, vergessen. Sie fühlte, daß sie diesen Mann, der keine Hindernisse scheute, mit Leidenschaft liebte und segnete den Himmel, welcher ihr Opfer verwarf. Statt Raymon zu zürnen, hätte sie ihm fast gedankt.
Raymon wußte bereits, daß er geliebt war. Er brauchte die Freude nicht zu sehen, welche durch Indianas Tränen glänzte, um zu begreifen, daß er alles wagen konnte. Ohne ihr seine unerwartete Gegenwart zu erklären, sagte er:
»Indiana, Sie weinen ... warum weinen Sie? ... Ich will es wissen.«
Sie erbebte, als sie sich bei ihrem Namen nennen hörte.
»Warum fragen Sie danach?« entgegnete sie; »ich darf es Ihnen nicht sagen ...«
»Wohl, Indiana! Ich, ich weiß es. Ich kenne Ihre ganze Geschichte, es gibt nichts, was mir nicht jener Augenblick enthüllt hätte, wo man mich blutend zu Ihren Füßen legte und Ihr Gemahl zornig zusehen mußte, wie Sie mit Ihren weichen Armen meinen Kopf stützten und mit Ihrem sanften Atem mir neues Leben einhauchten. Er ist eifersüchtig! O, ich begreife es wohl; ich wäre es auch, oder vielmehr an seiner Stelle brächt' ich mich um. Denn Ihr Gatte sein, Indiana, und den Besitz Ihres Herzens nicht verdienen, heißt der schlechteste oder der elendeste der Menschen sein.«
»O, Himmel, schweigen Sie!« rief die junge Frau, indem sie ihm mit ihren Händen den Mund schloss; »schweigen Sie, denn Sie machen mich strafbar. Warum wollen Sie mir lehren, ihn zu verwünschen? Ich habe nichts Böses von ihm gesagt; ich hasse ihn nicht, ich schätze, ich liebe ihn! ...«
»Sagen Sie lieber, Sie fürchten ihn, denn der Despot hat Ihr Herz gebrochen und die Furcht sitzt Ihnen zu Häupten, seid Sie das Opfer dieses Mannes geworden sind. Sie, Indiana, von diesem rohen Menschen entheiligt, dessen eiserne Hand die Blüten Ihres Gebens vernichtet hat! Armes Kind! So jung und so schön, und schon so viele Leiden ausgestanden ... denn mich täuschen Sie nicht, Indiana, ich kenne alle Geheimnisse Ihres Schicksals, ich kenne Ihr Leid. Mag die Welt sagen: Sie ist krank. Ich weiß es besser: Ich weiß, wenn der Himmel Sie mir gegeben hätte, mir, dem Unglücklichen, der sich den Kopf zerschmettern möchte, weil er zu spät gekommen ist, dann wären Sie nicht krank. Indiana, ich schwöre es Ihnen bei meinem Leben, ich würde Sie auf den Armen getragen haben, um Ihre Füße vor jeder rauen Berührung zu bewahren. An meinem Herzen wären Sie vor jedem Leiden geschützt gewesen; mein Blut hätte ich gegeben, um das Ihrige zu erneuen, und wenn Sie der Schlaf geflohen hätte, würde ich kniend vor Ihrem Bette gewacht und Ihren Träumen geboten haben, Ihnen Blumen zu streuen. Ich hätte die Flechten Ihres Haares geküßt, die Schläge Ihres Herzens gezählt, und bei Ihrem Erwachen, Indiana, hätten Sie mich zu Ihren Füßen gefunden, Ihnen dienend wie ein Sklave, Ihr erstes Lächeln erspähend, mir Ihren ersten Kuss erbittend.«
»Genug, genug!« rief Indiana ganz verwirrt. »Sprechen Sie nicht so zu mir, zu mir, die nicht glücklich sein darf; zeigen Sie mir den Himmel nicht auf der Erde, mir, die dem Tode verfallen ist.«
»Dem Tode!« rief Raymon, sie heftig in seine Arme drückend. »Du, sterben, Indiana, sterben, ehe du noch gelebt, ehe du geliebt hast! ... Nein, ich werde dich nicht sterben lassen, denn mein leben ist jetzt an das deinige geheftet. Du bist das Weib, das meine Träume mir gezeigt haben, der glänzende Stern, der auf mich herableuchtete und mir zurief: ›Wandle noch in diesem Leben des Elends, und der Himmel wird dir einen seiner Engel senden, um dich zu geleiten.‹ Du warst mir von Anbeginn bestimmt, Indiana! Die Menschen und ihre eisernen Gesetze haben über dich verfügt, aber du gehörst mir; du bist die Hälfte meiner Seele, die längst schon ihre andere Hälfte suchte. Als du auf der Insel Bourbon von einem Freunde träumtest, so war ich es, der dir erschien. Kennst du mich nicht? scheint es dir nicht, als ob wir uns schon damals gesehen hätten? Erkanntest du mich nicht wieder, als du mein Blut stilltest, als du deine Hand auf mein erloschenes Herz legtest, um ihm Leben und Wärme wiederzugeben? O, ich erinnere mich wohl. Als ich die Augen öffnete, sagte ich: ›Da ist sie! so lebte sie in allen meinen Träumen, sie ist es, der ich ungekannte Seligkeiten verdanken soll.‹ Und so war das Leben, zu dem ich zurückkehrte, dein Werk, Dein Gatte, dein Herr hat mich, blutend von seiner Hand, zu deinen Füßen gelegt, und jetzt kann uns