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Lydgate aber war fest überzeugt, daß Farebrother selbst viel weniger spielen würde, wenn er es nicht des Geldes wegen täte. Im »Grünen Drachen« war ein Billardzimmer, welches einige ängstliche Mütter und Frauen als die schlimmste Versuchung in Middlemarch betrachteten. Der Pfarrer war ein vorzüglicher Billardspieler, und obgleich er den »Grünen Drachen« nicht regelmäßig frequentierte, liefen doch Gerüchte um, daß er einige Male am hellen Tage dort gespielt und Geld gewonnen habe. Und was die Kaplanschaft betraf, so erklärte er ja selbst, daß ihm nur der vierzig Pfund wegen an derselben gelegen sei.
Lydgate war weit entfernt von puritanischer Strenge, aber er machte sich nichts aus dem Spiel und der Geldgewinn im Spiel war ihm immer als etwas Niedriges erschienen; überdies schwebte ihm ein Ideal des Lebens vor, welches ihm diese Abhängigkeit von dem Gewinn kleiner Summen durchaus verächtlich erscheinen ließ. Für seine eigenen Bedürfnisse war bisher, ohne daß er sich darum zu kümmern gehabt hatte, ausreichend gesorgt gewesen, und er war immer sehr freigiebig mit halben Kronen, als einer für einen Gentleman unbedeutenden Münze, umgegangen; es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, auf einen Plan bedacht zu sein, wie er sich wohl in den Besitz von halben Kronen setzen könne. Er hatte zwar immer gewußt, daß er nicht reich sei, aber er hatte nie Veranlassung gehabt, sich arm zu fühlen, und war ganz unfähig, sich eine Vorstellung von der Rolle zu machen, welche der Mangel an Geld bei der Bestimmung der menschlichen Handlungen spielt.
Niemals hatte ein Geldinteresse bei ihm das Motiv einer Handlung abgegeben. Daher war er wenig geneigt, Entschuldigungen für diese absichtliche Verfolgung des Gewinns kleiner Summen Gehör zu geben. Die Sache war ihm durchaus zuwider, und er ließ sich nie dazu herbei, sich von dem Verhältnis der Einnahme des Pfarrers zu seinen mehr oder weniger notwendigen Ausgaben genaue Rechenschaft zu geben. Möglicherweise würde er sich von diesem Verhältnis bei seinen eigenen Angelegenheiten keine gehörige Rechenschaft gegeben haben.
Und jetzt, als die Frage der Abstimmung an Lydgate herantrat, machte sich sein Widerwille gegen jene Art des Geldgewinns entschiedener zu Farebrother's Ungunsten geltend, als es bisher der Fall gewesen war. Wir würden viel besser wissen, was wir zu tun haben, wenn die Charaktere der Menschen mehr aus einem Guss wären, und besonders wenn unsere Freunde immer die nötige Befähigung für jedes Amt besäßen, das sie zu bekleiden wünschen. Lydgate hielt sich für überzeugt, daß er, wenn keine triftigen Gründe gegen Farebrother's Wahl gesprochen hätten, ohne Rücksicht auf Bulstrode's Ansichten, für ihn gestimmt haben würde: er war nicht gemeint, sich zu einem Vasallen Bulstrode's zu machen.
Was nun andererseits den Gegenkandidaten Tyke anlangte, so war das ein Mann, der ganz der Erfüllung seiner geistlichen Pflichten lebte; er war nur Pfarrgehilfe an einer Filialkirche in St. Peters Kirchspiel und hatte Zeit, noch neben der Wahrnehmung seines Amts besondere Pflichten zu übernehmen. Niemand konnte etwas gegen Herrn Tyke sagen, außer daß die Leute ihn nicht leiden konnten und ihn für scheinheilig hielten. In der Tat konnte man nicht anders, als Bulstrode von seinem Standpunkte aus Recht geben.
Aber so oft Lydgate sich der einen oder andern Seite zuzuneigen anfing, stieß er auf etwas, dem er auszuweichen suchte, und diese Notwendigkeit, sich mit etwas abzufinden, verletzte seinen Stolz und erbitterte ihn. Es widerstrebte ihm, die Erreichung seiner besten Zwecke auf's Spiel zu setzen, indem er sich mit Bulstrode schlecht stellte; es widerstrebte ihm aber auch, gegen Farebrother zu stimmen und so dazu mitzuwirken, daß dieser um Amt und Gehalt gebracht werde. Und an dieses Gehalt knüpfte sich für Lydgate wieder die Frage, ob nicht die Zulage von vierzig Pfund zu seiner Einnahme den Pfarrer vielleicht von der unwürdigen Beflissenheit, beim Kartenspiel Geld zu gewinnen, befreien würde.
Überdies war es für Lydgate ein unangenehmes Bewusstsein, daß er, wenn er für Tyke stimme, augenscheinlich für die seinem Interesse förderlichere Seite stimmen würde. Aber war denn schließlich wirklich sein Interesse im Spiel? Jedenfalls würden es die Leute behaupten, und würden von ihm sagen, daß er sich bei Bulstrode einzuschmeicheln suche, um sich wichtig zu machen und sich sein Fortkommen in der Welt zu sichern.
Was also tun? Er war sich bewußt, daß, wenn es sich nur um seine persönlichen Aussichten gehandelt hätte, er sich nicht im mindesten um die Freundschaft oder Feindschaft des Bankiers gekümmert haben würde. Was ihm aber wirklich am Herzen lag, das war eine Handhabe für die Ausführung seiner Ideen, ein Förderungsmittel seines Werks – und war er nicht am Ende verpflichtet, den Zweck, ein gutes Hospital zu erlangen, in welchem er die spezifischen Unterschiede der verschiedenen Fieber würde demonstrieren und Heilmethoden würde erproben können, höher zu halten, als irgend etwas, das mit der Besetzung dieser Kaplanstelle zusammenhing?
Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Lydgate den lästigen, wie ein Gewirre von Fäden wirkenden Druck kleiner gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre hemmende Kompliziertheit. Sein innerer Kampf endigte damit, daß er, als er sich nach dem Hospital begab, sich mit der Möglichkeit tröstete, daß die Diskussion der Frage doch noch eine andere Gestalt geben und eine der beiden Schalen so zum Sinken bringen könne, daß er der Notwendigkeit zu stimmen ganz überhoben sein werde. Ich denke mir, er vertraute im Geheimen auch ein wenig auf die Energie, welche die Umstände erzeugen, denn der Drang der Umstände wirkt auf einige Menschen belebend und erleichtert ihnen Entschlüsse, welche ihnen durch kaltblütige Überlegung nur erschwert worden wären.
Aber wie dem auch sei, es stand noch im letzten Augenblick nicht fest bei Lydgate, für wen er stimmen wolle; klar empfand er nur den Verdruss über das ihm aufgezwängte Joch. War es nicht wie ein Hohn auf alle Logik, daß er mit seiner Entschlossenheit, sich beim Erstreben hoher Ziele seine Unabhängigkeit zu bewahren, an der Schwelle seiner Laufbahn in die Klauen einer kleinlichen Alternative geriet, deren beide Seiten ihm widerstrebten? Als Student hatte er sich sein soziales Wirken zum Voraus ganz anders zurecht gelegt.
Lydgate hatte sich spät auf den Weg gemacht, aber Doctor Sprague, die beiden andern praktischen Ärzte und mehrere von den Direktoren hatten sich schon zeitig versammelt, während Herr Bulstrode, welcher Schatzmeister und Vorsitzender war, gleichfalls noch fehlte. Aus der Unterhaltung der Herren schien sich zu ergeben, daß der Ausgang des bevorstehenden Wahlkampfes noch problematisch und daß das Vorhandensein einer Majorität für Tyke keineswegs so sicher sei, wie man angenommen hatte.
Wunderbarer Weise waren die beiden konsultierenden Ärzte dieses Mal einer Meinung, oder beobachteten vielmehr, wenn auch aus verschiedenen Gesichtspunkten dasselbe Verfahren. Doctor Sprague, der Schroffe, Gewaltige, war, wie Jedermann vorausgesehen hatte, ein Anhänger Farebrother's. Der Doctor war mehr als verdächtig, gar keine Religion zu haben; aber über diesen seinen Mangel drückte Middlemarch ein Auge zu, ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß er in seiner ärztlichen Kunst deshalb nur um so bedeutender erschien; denn die uralte Identifizierung des bösen Prinzips mit Geschicklichkeit erwies sich noch äußerst wirksam in den Gemütern selbst weiblicher Patienten, welche über Halskrausen und Gefühle sehr streng dachten. Es war vielleicht wegen dieses Skeptizismus des Doktors; daß ihn seine Nebenmenschen verstockt und trocken nannten, Eigenschaften, welche man gleichfalls der Fähigkeit, die Wirkungen von Arzneien zu beurteilen, für günstig hielt. Soviel ist gewiß, daß wenn einem Arzt vor seiner Niederlassung in Middlemarch der Ruf vorangegangen wäre, sehr entschiedene religiöse Ansichten zu haben, streng auf Gebete und auch in andern Beziehungen auf die Betätigung einer frommen Gesinnung zuhalten, dadurch ein allgemeines Vorurteil gegen seine ärztliche Geschicklichkeit erweckt worden wäre.
Daher war es auch (berufsmäßig gesprochen) ein Glück für Doctor Minchin, daß seine religiösen Sympathien von sehr allgemeiner Natur und so beschaffen waren, daß sie sich auf eine reservierte ärztliche Sanktion jeder ernsten, gleichviel ob kirchlichen oder dissentierenden Gesinnung beschränkten, ohne sich für bestimmte Glaubensartikel zu erklären. Wenn Herr Bulstrode auf der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben als derjenigen bestand,