Das Deutsch Haus. Helmut H. Schulz
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Mit den Jahren verwuchs sich die Erinnerung an das Ereignis, aber nun sollte auf Betreiben des geretteten Bootsführers, damals mit ein paar Jahren Haft bestraft und bald von der Bundesrepublik herausgekauft, der Fall juristisch aufgerollt werden. Damals war er, Hartmann, abgelöst und vom Dienst suspendiert, nach Abschluss der Untersuchung aber dekoriert und befördert worden. Hätte er, wie ihm sein Wachoffizier damals vorsichtig nahegelegt, den Mann samt Kutter entkommen lassen, würde ihm vermutlich nicht viel passiert sein, wie er sich bestätigte, und jedenfalls würde er nicht mit einem Verfahren rechnen müssen, das übel für ihn ausgehen konnte. Ob einer der ihm damals Unterstellten noch lebte, und für ihn aussagen würde? Und ob er sich in dieses Verfahren hineinziehen lassen wollte, sollte er noch leben, dies alles war ganz offen.
Als der Bus bei dem kleinen Ort Kuhle hielt, um die Fahrt in Richtung Bug fortzusetzen, sprach ihn die junge Frau an; verwundert fragte sie, ob sie denn nicht nach Juliusruh führen, da sie doch einen Dauerfahrschein beim Fahrer vorgezeigt habe. Hartmann klärte sie darüber auf, dass sie in die falsche Richtung geraten war, bis zum letzten Halt mitfahren und die ganze Tour noch einmal zurück machen musste, was schade, nämlich um die schöne Zeit. Der Fahrer Kaasboom, der dem Gespräch gefolgt war, schloss mit dem trockenen Bemerken, er sei nicht verpflichtet, jeden Karteninhaber nach seinem Ziel zu befragen, und diese Dame hätte ja vielleicht auch bis zum Endhalt mitfahren wollen. Allerdings fand auch Hartmann, dass dem Kaasboom nicht vorzuwerfen war; dieses junge Weib war ein eigensinniges Wesen, das meinte ohne Hilfe durch die Welt zu kommen. Sie sagte, als er in Dranske ausstieg spöttisch bedauernd, es sei schade, dass man sich so bald trennen müsse. Er verstand und sagte: „Nun, vielleicht trifft man sich mal wieder, wenn Sie öfter solche Umwege fahren, um an den Strand zu kommen.“ Sie winkte aus dem abfahrenden Bus heraus und grüßte zurück.
FÜNFTES KAPITEL
Er duschte lange und bereitete sich ein spätes, aber um so reichlicheres Frühstück aus Rührei und Speck und Kaffee, schrieb auf einen Block, was er dem gemeinsamen Kühlschrank entnommen hatte und legte den Gegenwert in Geld auf die Anrichte. Während er aß und darüber nachdachte, welche Sachen er für den nächsten Tage brauchen werde, kam seine Frau herein und setzte sich nach einem Gruß ihm gegenüber an den kleinen viereckigen Tisch, der ihnen beiden, allerdings nicht mehr gemeinsam, als Esstisch diente. Er mied ihren Blick, stocherte in dem Rührei herum, dass ihm plötzlich wie Kleister schmeckte, schob den Teller weg und trank in großen Schlucken den Rest Kaffee, um schneller fertig zu werden und einen Grund zu haben, aufzustehen. An einem Gespräch lag ihm nichts, ihn hielt nichts mehr in dem Plattenbau, in den sie von Saßnitz aus gezogen waren, an seinen und einmal auch an ihren Ursprung zurückkehrend, in eine der frei gewordenen Wohnungen. Seiner Entfremdung von Dingen und Menschen, die ihm einmal wichtig gewesen waren, hatte er sich völlig ausgeliefert, brach alle alten Kontakte ab; seine geistigen und moralischen Reserven waren aufgebraucht. Und seine materielle Lage war alles andere als rosig, obschon er genug zum Leben hatte. Selbst der Aufschwung, auf den alle warteten wie auf ein Wunder, hätte ihm nichts mehr genutzt; er wäre ihm nicht gewachsen gewesen. Ohne sich dessen bewusst zu werden, verglich er die ihm gegenübersitzende Ehegattin mit der Frau aus dem Bus, die er nicht kannte, während er mit der anderen dreißig lange Jahre gelebt und zwei Kinder gezeugt hatte. Seit einigen Jahren führten sie getrennte Haushalte und trugen alle Ausgaben halbpart; verabredungsgemäß überwies sie ihren Anteil auf sein Konto, unregelmäßig genug und immer öfter erst nach Aufforderung. Von seinem Konto wurden also alle festen regelmäßigen Ausgaben abgebucht. Dieses System getrennter Kassen, von dem sich beide mehr Freiheit erhofft hatten, legte ihnen im Gegenteil nur Fesseln an. Als er das Saßnitzer Haus veräußert hatte und der Erlös auf seinen Vorschlag in vier Teile gegangen war, zwei davon als vorgezogenes Erbe an die Kinder ausgezahlt, hatten sie und er gedacht, ihre Streitigkeiten seien nun ein für alle Mal beigelegt. Aber sie waren beide zu lange arbeitslos, geschäftig und müßig zugleich, ohne vernünftige oder auch nur ablenkende Tätigkeit, verstört, aus der Bahn geworfen. Von Zeit zu Zeit schickte das Arbeitsamt die diplomierte Agraringenieurin in eine Arbeitsbeschaffungsmaßname, die, stets kurz bemessen und allemal unsinnig war, ob sie mit anderen nun die Halbinsel von Unkraut befreien sollte oder am Strand Steine auflesen, während er herumstreifte, auf Suche nach etwas Neuem in einer Welt, die ihm immer feindlicher und fremder erschien, an der er keinen Anteil mehr hatte und an die er keinen Anschluss finden würde.
Wegzugehen hatte er bisher nicht wirklich in Erwägung gezogen, weil er nicht wusste, wohin und weil er zu alt für einen Neuanfang war. Sein kleines Vermögen aus dem Hauserlös verwaltete er wie ein Buchhalter, um für den Notfall nicht blank dazustehen. Frauke war mit ihrem Anteil schnell fertig geworden; sie konnte mit Geld nicht umgehen. Eine leichte Beute der Handelsketten, reagierte sie stets prompt auf billige Sonderangebote aus den Katalogen der Versandhäuser, Angebote, die keineswegs hielten, was sie versprachen. Da es hier in ihrer Nähe keine Kaufhäuser gab, machten die Großmärkte gute Beute. Um ihre Kaufsucht zu befriedigen, fuhr Frauke bis Stralsund und weiter und kehrte zufrieden und glücklich mit überflüssigen Sachen oder Bestellungen zurück, mit einer Last neuer Wünsche und ärmer an Geld. Sie verbrauchte längst, was sie gar nicht mehr besaß und machte überall kleinere Schulden. Der ihr von der Bank eingeräumte Dispokredit war erschöpft. Und sie hatte keine Aussicht, jemals in eine dauerhafte, ihrem Können angemessene Arbeit vermittelt zu werden. Aber die Versandhäuser erwiesen sich auch bei schwierigen Kunden als entgegenkommend, nahmen Ware zurück oder tauschten sie um, wenn es sich der Besteller anders überlegt hatte oder weil er in Zahlungsschwierigkeiten geraten war. Das Geschäft blühte auf der Insel; alle diese Häuser räumten Kredite ein oder setzten Zahlungen aus, sicher, dass ihnen ein für alle Mal gehörte, wer sich mit ihnen einließ. Auf dem Telefontisch in der Diele ihrer gemeinsamen Wohnung häuften sich die Kataloge, neben den Mahnungen und Briefen.
Zuerst hatte Hartmann dieses Treiben mit sarkastischen Kommentaren begleitet, schließlich aber begriffen, dass es sich bei seiner Frau um eine Sucht handelte, um eine Erkrankung. Zu anderen Zeiten, wenn es nichts zu bestellen gab, oder wenn sie ungeduldig auf eine Lieferung wartete, klagte Frauke über Schmerzen, beschäftigte die Ärzte und behandelte sich selbst mit frei verkäuflichen Medikamenten und Drogen, schluckte Pillen gegen aufsteigende Hitze und gegen die Schwankungen ihres Blutdruckes und ging jedem sporadisch auftretenden Schmerz nach. Hier oben gab es nur die Unterhaltung, die man sich selbst verschaffte. Ein Volk mit sich selbst zu beschäftigen, um es von Überlegungen abzuhalten, wie viel Hoffnung noch wo zu entdecken sei, wie das manchmal auch komfortable Elend abzuwenden, von der dumpfen und allgemeinen Angst vor dem ungewissen Morgen, dem Verlust an Geld, Arbeit, Renten, dies hielt Hartmann für eine Strategie, eine Absicht, Menschen in Abhängigkeit zu bringen. Jedenfalls war der Druck auf Frauke groß, vielleicht war sie ein extremer Ausnahmefall.
Abgesehen von ihren ersten Ehejahren mit gemeinsamen Wünschen, Hoffnungen und Pflichten waren ihre Beziehungen nach der sogenannten Wende bis auf Null reduziert, die soziale Unsicherheit hatte die Selbstzerstörung noch beschleunigt. Beide waren schon über den Punkt hinaus, sich zu hassen, wie er annahm, aber darin sollte er irren, wie sich herausstellte. Ihre Klagen nahm Hartmann nicht nur nicht mehr ernst, sie reizten ihn kaum mehr zum schwachen Protest oder zu wütenden Ausfällen. Dass sie sich gläubig den Weisungen des Psychotherapeuten unterwarf,