Der Untertan. Heinrich Mann

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Der Untertan - Heinrich Mann

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und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber ließen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur nächsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten, hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

      »Ich begreife nicht«, sagte Diederich, »daß die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotmäßige Bande.«

      »Lassen Sie's gut sein«, erwiderte Wiebel. »Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberlegten Absichten, das können Sie mir glauben. Es ist nämlich gar nicht immer zu wünschen, daß derartige Fäulniserscheinungen am Staatskörper gleich anfangs unterdrückt werden. Man läßt sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!«

      Die Reife, die Wiebel meinte, kam täglich näher, am Sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewußter aus. In eine der nördlichen Straßen zurückgetrieben, quollen sie aus der nächsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verstärkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloß, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie übergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fußgänger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame Überschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und mißfarbene Meer der Armen, das zäh dahinrollte, dumpfe Laute heraufwälzte und wie Mäste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: »Brot! Arbeit!« Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: »Brot! Arbeit!« Anschwellend, über der Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: »Brot! Arbeit!« Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschäumen, Zurückfließen, und Weiberstimmen im Lärm, schrill, gleich Signalen: »Brot! Arbeit!«

       Man wird überrannt, vom Friedrichdenkmal fegt es die Neugierigen herunter. Auch sie haben aufgerissene Münder; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als würden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht erkennt, schreit ihm zu: »Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!« – und ist untergegangen, bevor ihm einfällt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem großen Schub weit hinübergeworfen, bis vor das Fenster eines Cafés, hört das Klirren der eingedrückten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: »Da haben se mich neulich rausgesetzt for meine dreißig Fennje, weil ich keinen Zylinderhut hatte« – und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfenen Tische, auf den Boden, wo man über Scherben fällt, einander die Bäuche einstößt und laut zetert. »Niemand mehr rein! Wir kriegen keine Luft!« Aber immer mehr steigen ein. »Die Polizei drängelt!« Und die Mitte der Straße sieht man frei liegen, gesäubert, wie für einen Triumphzug. Da sagt jemand: »Das ist doch Wilhelm!«

      Und Diederich war wieder draußen. Niemand wußte, wie es kam, daß man auf einmal marschieren konnte, in gedrängter Masse, auf der ganzen Breite der Straße und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser saß: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knäuel von Schreienden wurden aufgelöst und mitgerissen. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: sie hatten ihn heruntergeholt aus dem Schloß. Sie hatten »Brot! Arbeit!« geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.

      Seitwärts, wo die Reihen dünner waren, sagten bürgerlich Gekleidete zueinander: »Na Gott sei Dank, er weiß, was er will!«

      »Was will er denn?«

      »Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden!«

      »Angst kennt er nicht, das muß man sagen. Kinder, dies ist ein historischer Moment!«

       Diederich hörte es und erschauderte. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte weiße Bartkotelettes und das Eiserne Kreuz.

      »Junger Mann«, sagte er, »was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbüchern lernen. Passen Sie auf!«

      Viele hatten gehobene Brüste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit äußerster Entschlossenheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerhöchsten Aufführung befohlen; und manchmal schielten sie seitwärts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er maß sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empörerischen Knechten! Allein und ungeschützt hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des Höchsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie für immer das Gepräge seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht!

      Ein junger Mensch mit einem Künstlerhut ging neben Diederich, er sagte: »Kennen wir. Napoleon in Moskau, sich solo unter die Bevölkerung mischend.«

      »Das ist doch großartig!« behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln.

      »Theater, und nicht mal gut.«

      Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser. »Sie sind wohl auch so einer.«

       Er hätte nicht sagen können, was für einer. Er fühlte nur, daß er hier, zum erstenmal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bemängelungen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: sie waren nicht breit. Auch äußerte die Umgebung sich mißbilligend. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch drängte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Künstlerhut ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehen bemerkte Diederich zu seinen Mitkämpfern: »Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!«

      Der alte Herr mit Bartkotelettes und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drückte Diederich die Hand.

      »Brav, junger Mann, brav!«

      »Soll man da nicht wütend werden?« erklärte Diederich, noch keuchend. »Wenn der Mensch uns den historischen Moment verekeln will?«

      »Sie haben gedient?« fragte der alte Herr.

      »Ich wäre am liebsten ganz dabeigeblieben«, sagte Diederich.

      »Na ja, Sedan ist nicht alle Tage« – der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz. »Das waren wir

      Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser.

      »Das ist doch geradesogut wie Sedan!«

      »Na ja«, sagte der alte Herr.

      »Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr«, rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. »Wir müssen das bringen. Stimmungsbild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?«

      »Kleinigkeit« – Diederich keuchte noch immer. »Meinetwegen könnt es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unsern Kaiser haben wir mit.«

      »Fein«, sagte der Reporter und schrieb: »In der wildbewegten Menge hört man Leute aller Stände

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