Der Untertan. Heinrich Mann

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Der Untertan - Heinrich Mann

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»Das ist schrecklich. Können Sie mir das verzeihen?«

      Er lächelte überlegen. Das seien alte Geschichten, Jugendtorheiten.

      »Nein, nein«, sagte sie verstört.

      Die Hauptsache, meinte er, sei jetzt, wie sie nach Hause komme. Hier ging es schon wieder nicht weiter. Omnibusse waren auch nicht zu sehen. »Es tut mir leid, aber Sie werden sich meine Gesellschaft noch länger gefallen lassen müssen. Übrigens wohne ich gleich hier. Sie könnten mit hinaufkommen, da wären Sie wenigstens im Trocknen. Aber natürlich, eine junge Dame darf das nicht.«

      Sie hatte noch immer diesen flehenden Blick.

      »Sie sind so gut«, sagte sie, stärker atmend. »Sie sind so edel.« Und da sie schon das Haus betraten: »Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben?«

       »Ich weiß, was ich der Ehre meiner Korporation schulde«, erklärte Diederich.

      Sie mußten an der Küche vorbei, aber es war niemand darin. »Legen Sie doch solange ab«, sagte Diederich gnädig. Er stand da, ohne Agnes anzusehen, und trat, während sie den Hut abnahm, von einem Fuß auf den andern.

      »Ich muß die Wirtin suchen, damit sie Tee macht.« Er wandte sich schon nach der Tür, zuckte aber zurück: Agnes hatte seine Hand ergriffen und küßte sie! »Aber Fräulein Agnes«, murmelte er, furchtbar erschrocken, und legte ihr, wie tröstend, den Arm um die Schulter; da sank sie gegen die seine. Er drückte seinen Mund in ihr Haar, ziemlich tief, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Unter seinem Druck bebte und flog ihr Körper, als würde er geschlagen. Er fühlte sich in der dünnen Bluse lau und feucht an. Diederich ward es heiß, er küßte Agnes auf den Hals. Und plötzlich kam ihr Gesicht auf ihn zu: mit offenem Mund, halbgeschlossenen Augen und mit einem Ausdruck, den er nie gesehen hatte und der ihm schwindlig machte. »Agnes! Agnes, ich liebe dich«, sagte er wie aus tiefer Not. Sie antwortete nicht, aus ihrem offenen Mund kamen kleine warme Atemstöße, und er fühlte sie fallen, er trug sie, die zu zerfließen schien.

      Dann saß sie auf dem Diwan und weinte. »Sei mir nicht bös, Agnes«, bat Diederich. Sie sah ihn an, mit ihren nassen Augen.

      »Ich weine doch vor Glück«, sagte sie. »Ich hab so lange auf dich gewartet.«

      »Warum?« fragte sie, da er ihre Bluse schließen wollte. »Warum deckst du es schon zu? Findest du es schon nicht mehr schön?«

      Er verwahrte sich. »Ich bin mir der übernommenen Verantwortung vollkommen bewußt.«

      »Verantwortung?« sagte Agnes. »Wer hat die? Ich habe dich drei Jahre lang geliebt. Du wußtest es ja nicht. Es war wohl das Schicksal!«

       Diederich, die Hände in den Taschen, bedachte, daß dies das Schicksal der leichtsinnigen Mädchen sei. Andrerseits empfand er das Bedürfnis, sich ihre Versicherungen wiederholen zu lassen. »Also wirklich mich, nur mich hast du geliebt?«

      »Ich sah, daß du mir nicht glaubtest. Es war schrecklich, als ich merkte, du kamst nicht mehr, und es war aus. Es war ganz schrecklich. Ich wollte dir schreiben, ich wollte zu dir gehen. Jedesmal verlor ich den Mut, weil du mich doch nicht mehr mochtest. Ich kam so herunter, daß Papa eine Reise mit mir machen mußte.«

      »Wohin denn?« fragte Diederich. Aber Agnes antwortete nicht, sie zog ihn wieder an sich.

      »Sei lieb mit mir! Ich hab nur dich!«

      Diederich dachte verlegen: ›Dann hast du nicht viel.‹ Agnes schien ihm verkleinert und sehr im Wert gesunken, seit er den Beweis hatte, daß sie ihn liebte. Auch sagte er sich, einem Mädchen, das so etwas tat, dürfe man nicht alles glauben.

      »Und Mahlmann?« fragte er höhnisch. »Ein bißchen war doch wohl los mit ihm. – Na laß nur«, sagte er, da sie sich mit starrem Entsetzen aufrichtete. Er suchte gutzumachen. Er sei doch auch noch ganz benommen von seinem Glück.

      Sehr langsam zog sie sich an. »Dein Vater wird aber gar nicht wissen, was los ist«, meinte Diederich. Sie hob nur die Schultern. Als sie fertig war und er schon die Tür geöffnet hatte, blieb sie noch stehen und sah in das Zimmer zurück, mit einem langen, angstvollen Blick.

      »Vielleicht«, sagte sie, wie zu sich selbst, »komme ich nie wieder. Mir ist, als sollte ich heute nacht sterben.«

      »Wieso denn«, sagte Diederich, peinlich berührt. Statt einer Antwort ließ sie sich noch einmal an ihn hinsinken, den Mund auf seinem, die Brust auf seiner und von den Hüften zu den Füßen wie mit ihm verwachsen. Diederich wartete geduldig. Dann löste sie sich, öffnete die Augen und sagte: »Du mußt nicht denken, daß ich etwas von dir verlange. Ich hab dich geliebt, nun ist alles gleich.«

       Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Alliance-Platz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor: »Natürlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenüber zu entziehen. Nur vorläufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muß erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben ...«

      Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht: »Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.«

      Da sie in die Blücherstraße einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkehre. Sie sagte: »Weil uns jemand sehen könnte? Das würde gar nichts machen, denn ich muß zu Hause doch erzählen, daß ich dir begegnet bin und daß wir im Café zusammen gewartet haben, bis die Straßen wieder frei waren.«

      ›Na, die kann lügen‹, dachte Diederich. Sie setzte hinzu: »Für Sonntag bist du zu Mittag geladen, du mußt bestimmt kommen.«

      Diesmal war es ihm zuviel, er fuhr auf. »Ich soll –? Bei euch soll ich –?«

      Sie lächelte sanft und schlau. »Es geht doch nicht anders. Wenn man uns einmal sähe –: willst du denn nicht, daß ich wiederkomme?«

      O ja, das wollte er. Trotzdem mußte sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrem Hause verabschiedete er sich mit einer formvollen Verbeugung, kehrte rasch um und dachte: ›So ein Weib ist scheußlich raffiniert. Lange tu ich da nicht mit.‹ Indes bemerkte er mit Unlust, daß es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wußte nicht, warum. Als er dann die Tür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich reckte er die Arme in die Höhe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen: »Agnes!«

       Er fühlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. ›Ich bin ganz furchtbar glücklich‹, dachte er, und: ›So schön kommt es im ganzen Leben nicht wieder!‹ Er hatte die Gewißheit, daß er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich töricht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos, sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, daß er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte – bis Agnes kam! ›Agnes! Süße Agnes, du weißt ja gar nicht, wie ich dich liebhabe!‹ Aber sie sollte es wissen.

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