Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

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Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz

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von der Arbeit und öden uns an. Was meinst du?»

      Ich hob die Schultern. Viel war nicht zu machen. Geld besaßen wir alle vier nicht genügend.

      «Das hängt doch nicht vom Geld ab», meinte Helga.

      «Wir haben auch nicht mehr soviel Zeit wie früher», sagte ich.

      «Daran liegt es nicht», meinte sie. «Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe? Natürlich hast du es nicht gelesen. Und Vera und Vigo sind nicht anders. Das meine ich.»

      Sie war nicht mehr zufrieden mit uns.

      Als sie gegangen war, versuchte ich mit der Rohrfeder unsere Gegend zu zeichnen. Es gelang. Es war eigentlich gleich, ob ich gut oder schlecht zeichnete. Besser war schon, darüber nachzudenken, wie ich der täglichen Quälerei entrinnen konnte.

      Meine Großmutter kam, sah eine Weile zu und sagte: «Das zeichnet und zeichnet und verdirbt sich die Augen.»

      Wenn sie verallgemeinerte, benutzte sie nie die direkte Anrede. Wie Jule hatte auch sie eine merkwürdige Scheu vor Menschen und Sachen, die sie nicht ganz verstand.

      «Das geht jetzt ins Bett, weil es müde ist», sagte ich.

      Der Aufgang unseres Hauses konnte durch den Torweg betreten werden. Er führt weiter in einen Hof mit niedrigen alten Bauwerken. Links vom Eingang arbeitete der Flickschuster. Die zu seinem Laden gehörende Wohnung teilte er mit Charles, einem etwa sechzigjährigen Spastiker und dessen Schwester. Im Sommer rollte Charles seinen Stuhl vor die Ladentür und suchte uns in Gespräche zu verwickeln. Auf seinem Schädel wucherte borkenartiger Schmutz. Der Zynismus, mit dem er sein eigenes und das Leben überhaupt betrachtete, stieß uns ab. Wir verstanden nicht in den eng zusammenstehenden Augen, die trübe verschleiert dreinschauten, die Sehnsucht des Alten nach einem anderen Leben herauszulesen.

      «Es wird Herbst», bemerkte Charles.

      Mit einer Handbewegung hielt er mich auf. Ich vermied den Blick seiner eng zusammenstehenden Augen. Violette Augensäcke hoben das gespenstische Weiß seiner Augäpfel noch hervor.

      «Wie alt bis du jetzt?», fragte er.

      «Siebzehn», antwortete ich.

      Eine Decke um die Beine gelegt saß er schmutzstarrend auf seinem Rollstuhl. Ich ekelte mich vor ihm.

      «Ich werde jetzt arbeiten», sagte er ohne Übergang, die Atemluft verächtlich durch die Nase stoßend, «in der Manege. Ich kann als Untermann noch sehr gut arbeiten. Früher habe ich alles gemacht und viel gesehen, Barcelona, Rio, London. Dann bin ich gestürzt, und es war aus. Jetzt will ich mal sehen. Die Leute brauchen ein bisschen Freude.»

      «Ja», sagte ich ungeduldig, «ich kenne ja die Geschichte. Jeder kennt sie. Aber aus dem Kietz ist nie einer weggekommen.»

      «Doch», sagte er, «man kommt hier weg. Einmal kommt man hier weg.» Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: «Du glaubst mir nicht, mein Junge?»

      Mit einem Gemisch aus Widerwillen und Mitleid betrachtete ich ihn. Charles auf einem weißen Pferd oder am Trapez, das ging über meine Vorstellungskraft. Niemand glaubte ihm. Die Leute erzählten, dass er als Hucker gearbeitet habe, vom Gerüst gefallen sei und seitdem an Schüttellähmung leide.

      «Lass die Finger von Vera», riet er, «die ist eine Nutte». Rastlos fuhren die Vogelklauen auf der Decke hin und her.

      «Gib mir Geld», verlangte er plötzlich, «ich will mir Zigaretten kaufen.»

      Geld besaß ich nicht. Was ich verdiente, gab ich meiner Großmutter.

      «Versuch es mal beim alten Schwarz», rief ich, halb verärgert, halb belustigt über seine Winkelzüge.

      «Dann hau ab, du Penner», sagte Charles nicht unfreundlich.

      In Kretzschmars Lithografieabteilung arbeiteten zwei Gehilfen und zwei Lehrlinge hinter breiten Tischen aus glatt gehobelten Brettern. Eine Presse stand im gleichen Raum, von der ein Drucker Handabzüge herstellte. Es roch nach fetter Druckfarbe und Waschbenzin.

      Herr Ulrich, der ältere der beiden Gehilfen, stand mit Kretzschmar auf vertrautem Fuß. Geschickt handhabten seine kleinen Frauenhände Feder und Kreide. Auf seinem runden Seehundskopf wuchs weißer Babyflaum. Mit Vorliebe las er utopische Romane. Gelegentlich unterwies er uns Lehrlinge praktisch. Sein Können schien uns groß und wir bestaunten ihn ehrfürchtig.

      Arno war zwanzig. Dünnes Haar lag glatt gekämmt an dem vogelähnlichen Kopf. Die Backenknochen hoben sich kaum ab. Eine höckrige, stark abwärts gebogene Nase hing über dem dünnlippigen Mund. Wenn er lächelte, entstanden um seine Mundwinkel halbkreisförmige Falten, wie die Zifferblatthälften einer Uhr, dann wirkte sein Gesicht wie zerknittertes Pergamentpapier. Er kleidete sich sorgfältig, trug einen weißen Kittel, Hemd und Krawatte und sprach während der Arbeit kaum. Manchmal stand er am Fenster und starrte aus kühlen grauen Augen in den Hof hinunter. Seine Lider zeigten die rötlichen Spuren einer chronischen Entzündung.

      Dagegen redete Ulrich ununterbrochen bei der Arbeit, die ihm leicht von der Hand ging.

      Er sagte: «Die gelbe Gefahr. Es geht schon los. Dominik hat da eine geniale Voraussage getroffen, Arno. Merken Sie was? Lesen Sie gar keine Zeitung?»

      Die kleinen Augen Ulrichs glänzten triumphierend, der Babyflaum auf seinem Kopf sträubte sich, während Arno spöttisch erwiderte: «Sagten Sie gelbe Gefahr? Der Drucker hat über Ihren Gelbauszug gemeckert.»

      Mir vertraute er später an: «Ein seniler Dummkopf und ein falscher Hund. Er klatscht bei Kretzschmar herum, was wir reden. Also halte deine Klappe.»

      Günter Baum, Lehrling wie ich, hatte den watschligen Gang fetter kleiner Jungen. In seinen braunen Augen las ich die mir gut bekannten uferlosen Träume.

      «Ich will Karikaturist werden», gestand er, «und du?»

      Zum Beweis reichte er mir seine Zeichnungen, auf denen Menschen in komische Situationen verstrickt waren, in Situationen, die sie allein nicht meistern konnten. So ähnlich schien mir Baums Lage. Nie brachte er eine Arbeit pünktlich und gut zu Ende. Den Rügen Arnos setzte er kindliche Tränen entgegen, die seine runden Backen herunterrollten. Er tat mir leid, und ich stellte Arno zur Rede.

      «Lehrjahre sind keine Herrenjahre», sagte Arno, «und wieso ist der Bengel eigentlich so fett?»

      Baums Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft. Während wir unsere klitschigen Brotschnitten auf dem Kanonenofen rösteten, stieg uns der Duft von Wurst und Käse in die Nase. Die runden Augen Baums sahen uns friedlich an, die Augen eines gedankenlosen, gesättigten, nicht unfreundlichen Tieres.

      Arno bemerkte lakonisch: «Keine Freundschaften, das ist Kretzschmars Prinzip. Warte ab, bis du ihn besser kennst. Dann wirst du auch verstehen, warum hier einer des anderen Deibel ist. Unter uns gesagt, Gehilfenjahre sind auch keine Herrenjahre.»

      Das Auffallendste an Kretzschmar war ein mächtiger Siegelring, den er an der rechten Hand trug. Ständig rieb er ihn an der Strickjacke, die an dieser Stelle merklich abgenutzt war. Er wohnte in der ersten Etage des Vorderhauses, das ihm gehörte.

      An den Wochenenden mussten wir bei ihm erscheinen. Jeden Freitag prüfte er die Fortschritte, die wir machten. Mit quengliger Stimme verteilte er Lob und Tadel.

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