Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz
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Читать онлайн книгу Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz страница 7
«Bestrafen», sagte Helga, «hart bestrafen, wer sich jetzt noch bereichert und die Not ausnutzt.»
Das schwache Licht zweier Kerzen verwandelte das helle Blau ihrer Augen in ein dunkles Ultramarin, wie ich mit neuem Sachverstand feststellte. Wie gewohnt gab es abends keinen Strom.
Vera bestätigte Helgas Bemerkung nicht allzu eifrig.
«Dann kannst du ein Ghetto aus der Stadt machen», sagte Vigo.
Er sah im Kerzenlicht aus wie mit Lack übergossen. Bei Vera trat das Weiß ihrer Haut noch stärker hervor. Der Rauch stinkender Zigaretten kräuselte sich bis zur Decke.
Helga sagte: «Vielleicht bin ich zu radikal.»
«Wir kennen ja nichts anderes», sagte Vigo, «und ich habe den Eindruck, dass es eher schlimmer als besser geworden ist. Irgendjemand hat mal gesagt, genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar. Der hat mehr recht gehabt, als er selber wusste.»
Nach einer Weile sagte Helga: «Das ist eine schauderhafte These. Im Krieg haben doch alle geschworen, lieber zu hungern, bloß keine Bomben. Alle haben es gesagt, keiner will es mehr wahrhaben.»
In letzter Zeit widersprach sie Vigo öfter. Zwischen beiden war eine Spannung entstanden, deren Ursache ich nicht kannte.
«Schlechtes vergisst man eben schneller», warf Vigo ein.
«Gefühlsmäßig ja», gab Helga zu, «aber wir haben ja auch Verstand und können uns erinnern.»
«Das ist noch die Frage, ob du dich erinnerst oder bloß nachplapperst», meinte Vigo.
«Ich habe eine Freundin», sagte Helga ruhig. «Freundin ist vielleicht zu viel gesagt, denn sie ist bedeutend älter als ich. Sie hilft mir vieles verstehen, was ich allein nicht begreifen würde. Ich bin nicht so borniert, mich für fertig zu halten»
Ich hörte zum ersten Male von dieser Freundin. Gerade wollte ich mich nach ihr erkundigen, als Vera mich unterbrach.
«Müsst ihr euch eigentlich immer zanken?», fragte sie.
Die beiden schwiegen.
Dann entwarf Vera Lebenspläne für uns. Helga wird Kinderärztin. Vigo Rennfahrer und Wölfchen Kunstmaler.»
Vera hatte nie ein Rennen gesehen.
«Und was wirst du?», fragte Helga spöttisch.
«Schauspielerin», sagte Vera prompt.
«Du hast auch bloß Glück gehabt», wendete Helga sich an Vigo, «der Krieg, den die Nazis angezettelt haben, ist verloren. Jetzt tragen eben alle die Folgen.»
Vera schmiegte sich an Vigo. Ziemlich brüsk schob er sie weg.
«Die sagen doch immer, es gibt keine, wie heißt das, Schuld?»
«Kollektivschuld», warf ich ein.
«Richtig», sagte Vigo, «also dieses Ding gibt es nicht. Logischerweise brauchten wir dann auch nicht mitzuhungern. Wir sind ja Kinder gewesen, als die Nazis rankamen. Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? Kennst du einen, der mit den Rationen auf die Dauer leben kann? Lass den Winter kommen, dann wird es noch schlimmer. Bei uns waren sie heute in der Werkstatt, wir sollen Holz schlagen.»
Die Tasse, an der sich Helga wärmte, klirrte leise. Im Streit bewahrte sie selten kaltes Blut.
«Warum geht ihr neuerdings so schnell aufeinander los?»
Helga sagte: «Wölfchen, gerade uns Jüngeren wirft niemand eine Schuld vor. Wir müssen doch gerecht sein. Ganz Europa ist zerstört. Wenn nun jeder so denkt wie Vigo, was dann?»
Vigo sagte wütend: «Komm doch nicht mit der alten Leier. Es denken ja eine Menge Leute nur an sich. So gleichmäßig ist die Not nun auch wieder nicht verteilt. Das Gemeinschaftsgerede hängt mir zum Halse raus.»
Da Helga schwieg fuhr er fort: «Wer mich überzeugen will, der muss bei sich anfangen. Ich habe den Mann, der uns für die Holzaktion gewinnen wollte, erst mal gefragt, ob er auch mitfährt. Da ist er abgezogen. Und ich frage dich, wie viel Gramm Brot gibst du an Charles beispielsweise freiwillig ab?»
Vera sagte: «Macht mal Schluss mit dem Gequatsche. Wir ändern doch nichts an diesen Sachen.»
Ich wartete darauf, dass sich die angegriffene Helga verteidigen würde.
«Eines will ich dir noch sagen», meinte Vigo, «ich geh in keine Kirche, in keine schwarze und in keine braune, aber auch in keine rote.»
«Das verlangt auch kein Mensch von dir», sagte Helga, «ich geh auch in keine Kirche.»
«Noch nicht», sagte Vigo lauernd, «noch gehst du nicht in die rote Kirche.»
Im Stillen musste ich ihm zustimmen. Helga schien sich von uns zu entfernen. Sie dachte nicht mehr unsere Gedanken, kritisierte unsere Unterlassungen und trieb uns mit ihren Fragen in die Enge. Sie hatte sich auch schon deutlicher ausgedrückt als jetzt.
Gegen Vigo kamen wir schwer an. Er vereinfachte alles. Vielleicht empfand er auch Helgas Überlegenheit als lästig. Dem besseren Argument war er kaum zugänglich. Helga schonte ihn auch immer seltener. An Vera oder mir schien ihr bedeutend weniger zu liegen.
«Es ist besser für uns, wir würden die Scheuklappen ablegen», sagte sie still.
«Na schön», meinte Vigo, scheinbar versöhnt, «ich wollte auch nur für alle Fälle meine Meinung gesagt haben.»
Nachdem meine Großmutter das Geschirr weggeräumt hatte, sagte sie beiläufig: «Geh mal rüber zu Bruno. Frag mal, was denn aus den Kohlen wird.»
«Und was müssen wir dafür geben?»
«Bestecks», sagte sie ruhig.
Brunos Tür war offen, wie immer, wenn er sich zu Hause aufhielt. Die Augen des Buckligen glänzten erfreut, als er mich sah.
«Heut Nacht», sagte er. «Bring den Kellerschlüssel rüber. Das geht schon in Ordnung.»
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