Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

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Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz

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hing. Nachdenklich richtete er den Blick auf die Schlote und Hochöfen und bemerkte salbungsvoll: «Immer streben, immer nach Vollkommenheit streben.»

      Eine lederbezogene Klubgarnitur nahm das halbe Zimmer ein. Kretzschmar forderte uns nie zum Sitzen auf.

      Einmal sagte Arno: «Kretzschmar ist ein Fuchs. Nazi war er nicht, nur eben so Mitläufer. Fremdes Eigentum hat er wohlweislich nicht angetastet. Nach dem Kriege trieb er sogar einen Juden auf, der ihm seine Menschenliebe bescheinigte. Der Betrieb ist renommiert. Kretzschmar zahlt anständig. Soviel wirft die Klitsche immerhin ab. Wie das Geschäft läuft, weiß nur er allein und vielleicht noch Tamm, sein Treiber. Alles alter Stamm hier. Gegen Kretzschmar ist nichts zu sagen. Am besten macht man seine Arbeit und sucht nicht aufzufallen.»

      Beklommen nickte ich.

      Jule legte sich. Nachts weckte mich häufig sein trockener Husten. Gepflegt wurde er von Großmutter. Er stand nur noch stundenweise auf, saß frierend herum und redete viel vom Sterben.

      Dieser November war nasskalt und regnerisch. In Eimern und Schüsseln fing ich das durchlaufende Wasser auf. Dann lag ich wach, lauschte auf Jules Husten und die klingenden Tropfen. Jedes Gefäß gab einen besonderen, nur ihm eigenen Ton. Hin und wieder wurde das Dach ausgebessert, aber immer fand das Regenwasser einen neuen Weg in unsere Wohnung.

      Manchmal betrachtete ich die beiden Fotos meiner Eltern, einen kugligen Mann mit Brille und ein Mädchen im langen schwarzen Einsegnungskleid. Die Hände meiner Mutter staken in weißen Handschuhen, hielten das kleine Buch und den Strauß Blumen.

      «Dein Vater», sagte meine Großmutter, «der hat viel gelesen. Immer war das bei den Büchern, er wollte etwas Besonderes sein. Sicherheit suchte er. Hitler wollte er nicht, Beamter bleiben auch nicht. Da fing er an zu malen. Das war dann seine Welt, bloß es war nicht die richtige Welt.»

      Ich gab mir Mühe, zu den beiden Menschen auf den Fotos Beziehungen herzustellen, aber es gelang mir immer seltener. Es war komisch, dass ich dem Mädchen mit dem kindlich, ernsten Gesichtsausdruck und dem dicken Mann mit Brille mein Leben verdanken sollte.

      Von meiner Mutter wusste meine Großmutter noch weniger als ich, von der ich noch manchmal ihre Hände zu spüren glaubte. Wie es schien, war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihren Schwiegereltern nicht gut gewesen. Einundvierzig kamen wir auseinander. In ihren Briefen an mich beschwor meine Mutter den Tag, der uns alle wieder zusammenführen würde.

      Du musst tapfer sein, schrieb sie, das geht ja vorüber.

      Für mich gab es keinen Grund, tapfer zu sein. Ich hatte die Ereignisse, die uns trennten, nicht gewollt und nicht herbeigeführt.

      Es ging vorüber, nur anders, als meine Mutter gemeint hatte. Bei einem Luftangriff kam sie ums Leben. Das Haus, in dem wir gewohnt hatten, brannte ab. Fast zur gleichen Zeit fiel mein Vater. Meine Großmutter holte mich aus Schlesien zurück, wohin ich mit der Schule evakuiert worden war. Seitdem lebte ich in der Blumenstraße.

      In den Kriegsjahren fuhr ich hin und wieder ein paar Wochen lang in eine Schule des Berliner Randgebietes, selten. Wir verbummelten gleichmäßig, Vera, Helga, Vigo und ich. Was wir wussten, verdankten wir der Blumenstraße.

      Bruno verkaufte Knöpfe, Gummiband und anderen Krimskrams auf einem Markt, der zweimal in der Woche in der Boxhagener Straße abgehalten wurde. Nebenbei besorgte er die Geschäfte der Hausbewohner. Alle kannten ihn, und er kannte beinahe alle. Im Kopf des Buckligen wimmelte es von Gedanken und Unternehmungen.

      Ich saß häufig bei ihm in der Küche, dem einzigen Raum, den er wirklich benutzte. Meine Großmutter glaubte, dass der Umgang mit Buckligen Glück bringt.

      «Dein Vater liebte Bilder und machte auch welche», sagte Bruno.

      Aus dem Küchenschrank kramte er einen Packen abgegriffener Zeichnungen und Aquarelle hervor. Auf dem Tisch, der mit Wachstuch bespannt war, breitete er sie aus.

      «Das hat dein Vater gemacht», sagte er.

      Stiller Sonntage entsann ich mich, an denen mein Vater an seinen Bildern gearbeitet hatte.

      «Ich habe sie ihm abgebettelt», sagte der Bucklige, «er trennte sich schwer von seinen Bildern.»

      Ich betrachtete die Landschaften mit den Seen in der Mitte und den Kiefern im Vordergrund. Ich besaß selbst einen Stapel dieser Bilder. Gelungen schien mir eigentlich keines. Was ich zu sehen vermochte, war die arbeitende Hand meines Vaters, sein Kopf mit dem glatten schon ergrauten Haar.

      «Für dich wird das nun ein Beruf», sagte Bruno bedeutsam, «das vererbt sich.»

      «Was sich nicht alles vererben soll», sagte ich.

      Unter dem Nachlass meines Vaters befanden sich Bücher meist naturwissenschaftlichen Inhalts mit Randnotizen von seiner Hand, ein paar Hemden, Wäsche und ein Anzug, in den ich erst hineinwachsen musste.

      «Glaubst du, die Zeichnungen sind etwas wert?», fragte ich zweifelnd.

      Der Bucklige zögerte mit der Antwort.

      «Darauf kommt es doch nicht an», sagte er.

      «Worauf kommt es denn an?»

      Bruno schwieg. Er fischte eine seiner Sternenkarten aus dem Schrank, der alles Mögliche beherbergte, Esswaren, Bücher und Geschirr, löschte das Licht und hielt die Karte hoch. Die Sterne, mit einer grünlichen Phosphorfarbe gemalt, begannen zu leuchten.

      «Mein Planetarium», sagte er stolz und begann die Stellung der Sterne zu erklären.

      «Dein Vater», nahm er das Gespräch wieder auf, «wenn er machte was ihm gefiel, dann fühlte er sich wohl. So was hat seinen Wert aus sich selbst heraus.»

      Vor Bruno hatten wir einen großen Respekt, wenigstens wir Jüngeren.

      Seufzend schaltete er das Licht wieder ein, räumte die Blätter weg und musterte mich aus tief liegenden Augen.

      «Wolltest du was?», fragte er in anderem Ton.

      Ich machte ihm klar, dass der Winter vor der Tür stand.

      «Wir brauchen Kohlen», sagte ich.

      Er senkte den Kopf, bis ich seine Augen nicht mehr sehen konnte.

      «Und woher soll ich welche nehmen?», fragte er. «Und was könnt ihr geben? Ihr könnt doch nie was bezahlen.»

      Das war der andere Bruno, der Händler und Geschäftemacher, der seinen Vorteil suchte. Unten stand sein dickes altes Pferd, es bewies, dass hinterm Pferdeschwanz noch keiner verhungert ist. Mich interessierte die Verwandlung Brunos mehr als sein Gerede.

      «Jeder will was», lamentierte der Bucklige, «Kohlen, Kartoffeln. Was soll ich dir abnehmen, einer Waise? Schick mir lieber deine Großmutter.»

      Er verstummte und starrte auf den Fußboden, der lange keinen Wischlappen gesehen hatte.

      «Wie sein Vater», brummelte er, «der konnte einen Berg für andere versetzen und sich selber nicht helfen. Hat auch ein böses Ende genommen.»

      Der alte Schwarz schob mich vor sich her in die Küche. Er war Abträger auf dem Schlachthof, ein herkulisch gebauter Kerl von vierzig Jahren,

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