Johann Gabb. Thomas Pfanner

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Johann Gabb - Thomas Pfanner

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      Buisdorf

      Ich bin überfordert. Natürlich bin ich bestens geeignet, meinen Großvater zu versorgen und zu betreuen. Ich bin Altenpfleger und spezialisiert auf Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Aber es ist mein Großvater, Herrgott! Sein Geist erscheint im Augenblick so glasklar und präsent, wie meiner nie sein wird. Das erschüttert mich mehr, als ich sagen kann. Denn eigentlich ist er dement.

      Morgens ist er ganz fit, macht Scherze, isst und trinkt und findet rechtzeitig die Toilette. Gegen Abend verdunkelt sich sein Geist, man kann es ihm regelrecht ansehen. Das Gesicht verhärtet, die Blicke schweifen ins Weite, er wird hektisch und beginnt zu suchen. Dann läuft er weg. Meist finde ich ihn hier, im Gras sitzend, über dem Flusslauf der Sieg mit bestem Überblick über die Autobahn und die unendlich hässlichen Hochspannungsmasten. Hübsch hässlich habt ihr es hier, würde Heinz Rühmann sagen.

      Mein Großvater sagt nichts dergleichen. Immerhin ist mir klar, dass er im Geiste seine, unsere Umgebung verlassen hat. Er ist auf einer Zeitreise, unterwegs durch seine Vergangenheit. Er irrt umher, jeden Abend, auf der Suche nach einem Einstieg in Ereignisse und Begebenheiten von früher. Die Lichter der Autos, die bis zum Horizont diesen Perlschnur-Effekt erzeugen, sind der heutige Kristallisationspunkt, der Einstieg in eine Szene, die er damals durchlebt hat. Nunmehr durchlebt er sie aufs Neue, mit allem Drum und Dran, die Emotionen von damals flackern über sein Gesicht, der Körper ist angespannt, die Hände verkrampft. Seine sonst eher verwaschene Aussprache ist präzise und dynamisch, fast so dramatisch wie bei einem dieser Sprecher im Fernsehen, wenn sie derlei Ereignisse kommentieren.

      Soweit ist mir alles klar. Nur, wie soll ich reagieren? Offenbar nimmt er mich wahr, erkennt mich als nicht zu dem gerade, also damals Erlebten gehörig. Ich bin sein Fenster zur Realität und mit ziemlicher Sicherheit braucht er mich, weil er den Zwang verspürt, seine Erlebnisse mitzuteilen. Er braucht mich aber auch, um seine Erinnerungen komplett aufzufrischen. Auch ich verdeutliche mir Dinge am besten, indem ich sie jemandem erzähle. Ich merke ganz deutlich, wie seine Erzählungen lebendig und plastisch werden, sobald er eine Weile darüber redet. Trotzdem, was soll ich tun?

      Ich versuche es mit einer Doppelstrategie. Ich stelle eine Frage und ziehe ihn gleichzeitig sanft am Arm, um ihn von der feuchten Wiese wegzubekommen.

      »Landverschickung? Was ist denn damit gemeint?«

      Es funktioniert. Er steht auf, klopft sich unbeholfen die Hose ab, sieht mich an und erklärt es mir. Dabei beginnt er, neben mir herzugehen, ein vertrauter Spaziergang Richtung Heimat. Ich muss sehr auf den Weg achten, denn er tut es nicht. Er ist in seiner Geschichte gefangen und die erzählt er derart spannend, dass ich beinahe hineingesogen werde in die Zeit und selbst kaum noch auf den Weg achte.

      Mágocs, Anfang 1944

      »Du elender Zigeuner! Flegel! Viehdieb! Schuft!«

      Mit jedem Wort verabreichte er dem Burschen eine saftige Ohrfeige. Der wagte es auch noch, sich zu verteidigen.

      »Was hast du denn? Es sind doch nur Juden. Tote Juden noch dazu. Kein Schwein kümmert sich um die.«

      Trotzig jaulte der Junge die Worte heraus. Erbittert langte er ihm noch eine.

      »Ich bin das Schwein, das sich um die Juden kümmert. Und ein paar hundert Bürger unseres Ortes kommen da auch noch infrage. Wir leben hier zusammen, seit Jahrhunderten. Wir respektieren uns, helfen uns, wo es nötig ist und gehen uns aus dem Weg, wenn es ratsam erscheint. Jeder lebt sein Leben, gemeinsam aber bilden wir die Gemeinde.«

      Dieser Sauhund, er muckte immer noch auf.

      »Der Führer wird alle Juden umbringen, ihre Geschäfte arisieren, ihre Friedhöfe einebnen. Diese Fremdkörper im Fleisch unserer Nation sollen verschwinden. Nichts wird an sie erinnern, warte nur, Vater Johann, bald kommt er auch hierher und macht ganze Arbeit. Du wirst schon sehen.«

      Johann sah es jetzt schon. Warum musste er auch immer so gutmütig sein? Harald war ein richtiger Bengel, gerade vierzehn, sein Hass reichte ebenso weit wie seine Dummheit, und das war eine erschütternd lange Strecke. Er hatte nicht die geringste Ahnung, doch frei von intelligenten Gedanken jubelte er frenetisch dem Stärksten zu, den er erreichen konnte. Dabei sollte er doch klüger sein, nach alldem, was er bereits erleben durfte. Der Bursche kam aus Hamburg, hatte einige Bombennächte erlebt und knapp überlebt, sein Haus, sein Kinderzimmer, alles futsch, verbrannt. Die glorreiche Luftwaffe Görings konnte nichts dagegen unternehmen, immer wieder kamen die Engländer zurück und warfen ihre Bomben. Seit Kurzem gaben sich auch die Amerikaner die Ehre, dreisterweise sogar am helllichten Tag. Die deutschen Behörden mussten schließlich einsehen, dass sie die Bevölkerung nicht schützen konnten, da erfanden sie die Landverschickung für Kinder. Die Kinder wurden auf Land geschickt, zu deutschen Familien, bei denen sie ernährt und erzogen werden sollten. Besonders sicher für die Kinder war es in Ländern, in denen nominell gar kein Krieg herrschte, zum Beispiel hier in Ungarn.

      Und er musste so unvorsichtig wie weichherzig sein, sich zu melden, prompt haben sie ihm diesen unerzogenen Kerl geschickt. Jeden Tag stellte Harald etwas an, manchmal sogar zusammen mit Johanns Töchtern, aber das hier schlug dem Fass die Krone aus. Der Frevel auf dem Friedhof ließ sich nicht mehr mit ein paar Ohrfeigen erledigen, ganz sicher nicht. Zu allem Überfluss zeigte sich der kleine breitschultrige Junge ganz und gar uneinsichtig. Er heulte und hielt sich die Backe, und trotzdem gab er nicht klein bei.

      Ganz Deutschland schien in diesen Tagen den Sinn für die Realität absolut verloren zu haben. Er gestand sich ein, so nicht weiter zu kommen. Er versuchte es mit mahnenden Worten und verzichtete auf weitere Ohrfeigen. Wenn die sieben oder acht nicht wirkten, dann nützten die nächsten zehn auch nichts.

      »Junge, verstehe doch: Bei uns ist es ganz egal, was bei dir zu Hause los ist. Wir hier leben mit Juden, Zigeunern und übrigens auch den Ungarn in Frieden zusammen, seit wir denken können. Und, bei Gott, wir wollen auch weiter in Frieden zusammenleben. Du bist Gast hier, ich glaube, du weißt sehr gut, wie dringend nötig es war, aus Hamburg herauszukommen. Du musst dich anpassen, kleiner Harald, dies ist unsere Welt und du bekommst ganz enorme Schwierigkeiten, wenn du unter uns Unruhe stiftest.

      Dies ist nicht Deutschland. In Ungarn lebt nicht nur ein Volk, hier leben mindestens vier Völker zusammen, nur in dieser Stadt. In ganz Ungarn sind es noch ein paar Völker mehr. So war es immer, das ist der Normalfall seit tausend Jahren. Völker kommen und gehen, manche siedeln, andere befinden sich auf einem Weg, der woanders enden wird, alle sind sie verschieden. Trotzdem wollen alle das Gleiche: Ihren Lebensunterhalt bestreiten und in Frieden leben. Wir leben nur so lange in Frieden, wie jede Partei für sich den Frieden auch einhält.

      Wenn plötzlich alle losschreien, sie wären die Größten und alle anderen die Unwürdigen, die Untermenschen, dann können wir hier einpacken, und zwar für alle Zeiten. Kein Frieden mehr, kein Auskommen, nur noch Tod und Verderben. Das kann niemand ernsthaft wollen.«

      Der Junge heulte auf, kreischend schrie er seinen Protest heraus: »Der Führer will es so. Es ist ein moralischer Imperativ, den Juden zu treffen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.«

      Diese Borniertheit machte ihn rasend. Wie konnte dieser kleine Scheißer schon so viel Müll im Hirn ansammeln? Er wandte den Blick weg von dem rotgesichtigen Trotzkopf und musterte die Umgebung. Ein idyllischer Ort, alles in Saft und Kraft, strotzende Fruchtbarkeit bis zum Horizont. Das alles hatten Deutsche geschaffen, in unendlich langwieriger Arbeit, über Generationen hinweg. Die Türkenkriege hatten Einöde hinterlassen, jeder hatte jeden so lange umgebracht, bis buchstäblich niemand mehr übrig war.

      Die im grausigen Befreiungskrieg erschöpften Ungarn waren nicht mehr in der Lage gewesen,

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