Virtuelle Ethik. Dirk Schumacher
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Hier stellt sich die Frage, wie konstituieren Menschen sich untereinander? Natürlich können wir behaupten, das wäre nicht so. Menschen sind Einzelwesen, jeder für sich unabhängig und quasi per Entscheidung auch in der Möglichkeit sich für andere zu entscheiden. Und Familien, Gruppen, Nationen und Staaten entstehen, weil wir uns für sie entscheiden und das im Zusammensein wollen. Doch genau dieser Gedanke des Unabhängigseins ist nur eine Grenze, die wir ziehen um unser Leben zu schützen, um als Person bestehen zu können. Wir lernen diesen Gedanken schon früh in der Kindheit, er gehört zu unserem Bewusstsein, zu unserem Ich. Er ist unabdingbar für Entscheidungen und trotzdem … Was wäre die Alternative? Dissipative Muster von Einzellebewesen, die per Zufall etwas höheres erschaffen? Für mich undenkbar. Jeder Mensch, der vor dieser Frage steht, hat überhaupt gelernt zu sprechen, zu kommunizieren, logisch zu denken, sich selbst zu denken, sich unter anderen als Person zu denken – und dann kann er diese Frage überhaupt erst stellen. Für jeden Menschen ist die Frage eine zutiefst pragmatische Fragestellung, die er benötigt um unter anderen Menschen ein Ich-Selbst zu sein. Die Frage, wie unabhängig wir Menschen sind, ist eine zutiefst menschliche Frage. Und die Antwort kann nicht sein, dass wir uns für eine Seite entscheiden, sondern dass wir uns fragen, wie es zu dieser Unterscheidung kommt. Zu der Frage, was bedeutet es Unabhängig zu sein? Was bedeutet es Mensch in beider Bedeutung zu sein? Sobald wir Sinn und Zeit in die Frage nach der wirklichen Unabhängigkeit stellen, stellt sich die Frage anders: Wie erreichen wir menschliche Freiheit? Und damit sind wir in einer geistigen Bewegung, die bedeutet nicht alleine und doch verantwortlich zu sein für das, was wir tun.
Wie sie sehen, sind wir bei dieser Fragestellung sehr schnell bei gewichtigen Symbolen. Freiheit, Menschlichkeit, Sinn, Zeit, Verantwortung. Und versuchen diese in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Das dies nicht gelingt, liegt nicht daran, dass diese Begriffe nicht zusammengehören, sondern ist darin begründet, dass diese Dinge aus pragmatischer Sicht in der Kommunikation untereinander entstehen. Wir erleben sie tagtäglich. Aber das bedeutet nicht, das die Zusammenhänge logisch wären oder logisch zu beschreiben. Wie denn auch? Wenn wir unabhängige Wesen in einem menschlichen Zusammenhang sind, so ist das was dort passiert unser Erleben. Von jedem Einzelnen das Gemeinsame im Erleben. Das ist aber nicht das gleiche, wie das was uns verbindet oder unser Zusammenleben begründet. Das können wir gar nicht sehen, denn es findet auf einer anderen Ebene statt. Auf der Ebene des Gemeinsamen. Und die sehen wir Einzelwesen nur von außen.
Diesen Zusammenhang habe ich zuerst bei Pierre Bourdieu verstanden. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er mir dort die Augen geöffnet hat. Was bei mir der Zusammenhang von Logik und Pragmatik ist, was bei Habermas System und Lebenswelt heißt, ist bei Bourdieu der Zusammenhang von Theorie und Praxis. Es ist das Verständnis, dass man die Dinge nicht trennen kann ohne die Substanz darin aus den Augen zu verlieren.
Bourdieu umschreibt das so, dass Objektivismus und Subjektivismus Rituale der Wissenschaft sind, in denen zwischen der praktischen Beherrschung der Realität und einer verzauberten Objektivität der Praxis unterschieden wird. Das bedeutet für ihn, dass jede wissenschaftliche Praxis eine Theorie der Praxis und die Erfahrung der Praxis mit einschließt. Darin bedeutet Objektivtät einen sozialen Mechanismus, der aus Alltagswissen Klassifikationen und Defnitionen konsturiert. (6)
Dies, die Trennung des wissenschaftlichen Verständnisses von Praxis und der Erfahrung von Praxis, funktioniert, weil er vorher 3 Erkenntnisweisen unterscheidet:
- Die phänomenologische Erkenntnisweise als Explikation der primären Erfahrung mit der sozialen Welt, als selbstverständliche Vertrautheit mit der Welt und deren Möglichkeiten
- Die objektivistische Erkenntnisweise als Frage nach den besonderen Bedingungen der Möglichkeit der Wirklichkeit selbst, als strukturierte, rationale und sprachliche Beschreibung der vertrauten Welt.
- Die praxeologische Erkenntnisweise als Umgang mit den Beziehungen dieser Strukturen in der Objektivität, als Kreisförmiger Prozess zwischen Praxis und ausgedrückter Objektivität.
Voraussetzung für diese Unterscheidung sind seine ethnologischen Erkenntnisse aus vorausgegangenen Untersuchungen der kabylischen Gesellschaft in Algerien. Die Untersuchungen aus den Jahren 1960-65 und deren Auswertungen bis 1972 zeichnen sich durch ein intensive Auseinandersetzung mit einer Kultur aus, einer starken Verflechtung mit ihrer Sprache, durch eine inhärente Bewunderung ihrer ordnenden Sprache und Weltsicht. In den Interpretationen gelingt es Bourdieu aus ihrer sehr praxisbezogenen und ordnenden Weltsicht, die sich auch in ihrer Sprache niederschlägt, immanente Hinweise auf Ordnungsstrukturen herauszulösen, die sich auch auf moderne Gesellschaften beziehen lassen. Zentraler Punkt bleibt der Begriff der Praxis.
Seine zentrale These lautet, dass eine wissenschaftlich strenge Theorie der Praxis nicht von den praktischen Handlungen der Wissenschaftler, die die objektivistischen Strukturen als Theorie konstruieren, getrennt werden kann.
Kurzum, es gibt für den Ethnologen keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Der Unterschied der in der Wissenschaft so schwerwiegende Probleme für den ausübenden Wissenschaftler schafft und in seiner Sozialisation eng damit verwoben ist, um ihn zu erschaffen, existiert nicht. Jeder kennt den Unterschied und die Schwierigkeiten, die es ausmacht statistische Zahlen zu erheben und auszuwerten. Es ist ein sehr schmaler Grad, der erlernt werden will um dort zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden.
Anstatt behauptet Bourdieu, dass es eine Theorie der Praxis gibt, in der uns beigebracht wird, was Praxis bedeutet. Und das ist etwas anderes, als die Praxis, die wir als Wissenschaftler haben, um damit umzugehen. Bourdieu legt einen Finger an eine für die Wissenschaft wunde Stelle. Jeder, der damit umgeht, kann das genau nachempfinden, hat aber auch gelernt, es auszublenden um nachprüfbare formale Ergebnisse zu liefern. Bourdieu ist nicht nur ein Ethnologe, der sich mit der kabylischen Gesellschaft auseinandersetzt, sondern für ihn ist es nicht hinnehmbar, dass objektive Auswertungen gesellschaftlicher Untersuchungen zu für ihn falschen Ergebnissen kommen. Er ist gezwungen auch seine eigene Gattung, die des Wissenschaftlers zu untersuchen. Erst mit seinen erlernten ethnologischen Instrumenten, dann mit neuen geschärften, die er braucht, um eine höhere Stufe der Objektivität zu erreichen.
Bourdieu hat sich nicht nur mit der Gesellschaft und Sprache der Kabylen beschäftigt, sondern auch mit der Kultur und Sprache der Verhaltenswissenschaft. Er hat die Erkenntnisse aus beiden kulturellen Bereichen verbunden und damit nicht nur die hierarchischen Elemente der kabylischen Gesellschaft untersucht, sondern auch die Herrschaftsstrukturen und Herrschaftsdiskurse innerhalb der Wissenschaft. Und das aus dem Blickwinkel des Ethnologen. Daher sind seine Untersuchungen nicht nur im ethnologischen Teil so puristisch genau und jedes Detail aufzählend, sondern auch im philosophischen und wissenschaftstheoretischen Teil so präzise und vielfach auf Quellen bedacht. Bourdieu kämpft um seine Reputation und ist sich seiner revolutionären Ideen bewusst. Beides, die überzeugenden intensiven ethnologischen Untersuchungen und sein verzweifelter Kampf um wissenschaftliche Grundlagen machen seinen Reiz aus.
Das möchte ich an einem Beispiel erklären.
Der kabylische Kalender besteht aus einem Netzwerk von Regeln, die mit Symbolen