Der Mensch - eine Fehlkonstruktion?. Anton Weiß
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Dabei hat der Mensch als Individuum natürlich ein Recht auf Selbstbehauptung. Der Unterschied aber zu seinem Selbsterhaltungstrieb als Ich besteht darin, dass das Individuum das Lebensrecht des anderen anerkennt und genau so hoch schätzt wie das eigene. Das kann das Ich nicht, es nimmt immer für sich Partei und sieht das eigene Lebensrecht immer höher an als das des anderen. (Ich habe die Unterscheidung zwischen Ich und Individuum ausführlich in „Der ganz normale Wahnsinn“ dargestellt).
Das ist der Grund, warum die – durchaus richtigen und vernünftigen - rationalen Erkenntnisse bei der Umsetzung im konkreten Leben scheitern, denn hier spielt immer die Sorge um das Ich die entscheidende Rolle. Die vernünftigen Erkenntnisse, die ein Mensch in Bezug auf seine Lebensführung hat, scheitern bei der Umsetzung am Ich und seinen eignen Bedingtheiten. Es liegt nicht am Wissen und an der richtigen Erkenntnis, sondern an den Faktoren, die das Tun beeinflussen, wie Eigeninteresse, Gefühl, Triebe, Vorlieben, Neigungen, Wünsche etc.
Eine Begebenheit, die in der SZ vom 25./26.04.09 geschildert wird, zeigt alle Facetten im Verhalten von Menschen, sowohl rationales Bemühen um Verständnis auf der einen Seite als auch das Durchbrechen der Triebe, sowohl der Sexualität als auch der Selbstbehauptung auf der anderen Seite. Ich darf sie kurz schildern, da sie wohl für jeden nachvollziehbar ist und das, was ich zu sagen versuche, nämlich dass in einer existenziellen Situation, wo die Interessen eines Menschen unmittelbar betroffen sind, die Ratio von den Urantrieben hinweggefegt wird, verdeutlicht:
Beim Streit um eine junge Frau (ein 17-jähriges Mädchen) hat ein 17-Jähriger einen 20-Jährigen mit einem Messer attackiert. Die beiden jungen Männer wollten sich zu einer Aussprache treffen, dabei ist die Situation eskaliert. Sie versuchten sich vernünftig zu verständigen, wie es unter zivilisierten Menschen möglich sein sollte. Aber es ging um ein elementares – naturhaftes – Interesse, eben um ein sexuelles. Und da siegte nicht die Ratio, sondern der elementare Selbsterhaltungstrieb, wo man mit aller Macht seine Interessen beansprucht, verteidigt und durchsetzt, wobei der Versuch der Tötung das letzte Mittel ist. Im Grunde verbirgt sich dahinter nichts anderes als der uralte, seit Millionen von Jahren tief verwurzelte Kampf zweier Männchen um ein Weibchen. Wenn man das begreift, dann fällt es einem nicht schwer, zu verstehen, dass es eine ungeheure Auseinandersetzung erfordert, wenn dieses Muster besiegt, überstiegen, eben transzendiert werden soll. Und das ist die dem Menschen auferlegte Aufgabe!
Wenn man nun weiß, dass der 17-Jährige türkischer Abstammung ist, dann ist sein Verhalten noch weniger verwunderlich, denn sowohl im türkischen wie auch im arabischen Kulturkreis wird die Dominanz des Mannes noch stark betont. Ich glaube, dass sich in der gesamten Auseinandersetzung mit dem arabischen Kulturkreis – und ich sage bewusst arabischen Kulturkreis und nicht Islam, denn mir scheint die Religion nur der Vorwand für tief verwurzelte kulturelle Prägungen zu sein – das Ringen um die Vorherrschaft des Mannes zeigt. Der Protest gegen den Westen ist ein Protest gegen die Aufgabe der Vorherrschaft des Mannes, die im Westen durch die Bestrebungen der Emanzipation der Frau allmählich vorangeschritten ist. Wenn ich damit recht habe, dann zeigt die elementare Wucht dieser Verteidigung der angemaßten Rechte des Mannes, mit welchen Urmächten man es zu tun hat. Von daher ist Ehrenmord gar nicht verwunderlich. Diese Vorherrschaft des Mannseins ist identisch mit der Vorherrschaft des Ichs. Die männliche Macht ist der Repräsentant des sich absolut setzenden Ichs. Diesen Satz kann man auch umkehren: Das sich absolut setzende Ich spiegelt sich in der Behauptung der Macht des Mannes wider.
Es ist immer leicht, bei anderen zu wissen, was sie falsch machen und wie sie sich verhalten sollten. Und häufig weiß man es auch bei sich selbst. Das Handeln bleibt aber meistens dahinter zurück, was man sich nur schwer eingestehen und vor anderen nicht zugeben kann. Deshalb muss man tricksen, verdrängen und anderen etwas vormachen. Die andern aber spüren das und deshalb ist man unglaubwürdig. Es ist die typisch pharisäische Haltung: Die Ansprüche, die man an die anderen stellt, kann man selbst nicht erfüllen. Und man macht sich immer besser als man ist, denn in der Erkenntnis ist man ja gut; dass man im konkreten Leben weit hinter den eigenen Zielen zurückbleibt, schiebt man beiseite oder findet immer Ausflüchte und rationale Begründungen.
So ist jeder gegen Korruption, hat er aber selber die Möglichkeit dazu, dann ist sein vorherrschendes Ich-Interesse der ausschlaggebende Faktor und nicht seine vernünftige Erkenntnis, denn das Ich sucht immer seinen persönlichen Vorteil. Dabei bleibt oft die simpelste Vorsicht außer acht, z. B. dass man damit rechnen muss, erwischt zu werden und dann Rechenschaft ablegen muss. Aber die Gier nach dem Vorteil übertönt alle Vernunfterwägungen und behält die Oberhand.
Ratio und Leben können nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Was vom Verstand her lösbar zu sein scheint – glücklich in Partnerschaft und Familie zu leben, mit den Kollegen am Arbeitsplatz gut auszukommen, Frieden in der Welt zu schaffen usw. – ist im praktischen Leben nicht möglich, weil das eine sich in der Idee, im Denken, abspielt, die Lebenswirklichkeit aber den ganzen Menschen erfordert, und der ist eben dem Ich verhaftet, und das heißt, seinem Ego, seiner Selbstbezogenheit, seinen irrationalen Emotionen und Antrieben.
Daher ist es notwendig, dass das Ich transzendiert wird, dass, mit den Worten C. G. Jungs gesprochen, Individuation erfolgt, was bedeutet, sich in seiner Negativität, seinem Schatten und seinen unbewussten Antrieben zu sehen und sich damit auseinander zu setzen.
Wir schaffen uns durch die Ratio immer wieder Probleme, die wir dann nicht mehr lösen können, das ist der tiefe Gedanke in Goethes Zauberlehrling. Ob das die Versiegelung der Böden ist, wodurch das Regen- und Schmelzwasser nicht mehr aufgenommen werden kann, weshalb es zu verheerenden Überschwemmungen kommt, ob es unsere hochtechnisierte Welt ist, die die Klimaerwärmung mit ihren noch unabsehbaren Auswirkungen zur Folge hat, oder die Nutzung der Atomkraft, wo die endgültige Entsorgung des radioaktiven Mülls nicht gelöst werden kann. Die Ratio, mit deren Hilfe wir glauben, alles in den Griff zu bekommen, greift immer zu kurz. Die Wirklichkeit ist viel komplexer, als dass sie vom menschlichen Verstand erfasst und überblickt werden könnte Aber das wollen wir nicht glauben und verweisen auf die tollen technischen Leistungen, die wir schon vollbracht haben.
Die das gesamte Leben beherrschende Diskrepanz zwischen rational Wünschbarem und der konkreten Realität wird in der Forderung einer Schule ohne Noten sichtbar: Es ist eine wunderbare Vorstellung, junge Menschen ohne Notendruck heranwachsen zu lassen, das bedeutet ohne Konkurrenzkampf und in freier Entfaltung des Individuums, ohne Frustration und ohne Stress. Eine frustrationsfreie Erziehung ist eine wunderbare Idee. Es setzt aber den idealen Menschen voraus, und den gibt es nicht. Und die Lebenswirklichkeit zeigt sich ganz anders: Arbeitslosigkeit, aber schon die Furcht, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, bedeuten eine ungeheure Frustration und Stress. Wie soll ein Mensch dem Leben, das durch den Stress, dem der Mensch im heutigen Konkurrenzkampf ausgesetzt ist, gekennzeichnet ist, gewachsen sein, wenn er nicht gelernt hat, mit Frustration und Versagen umzugehen?
Die Lebenswirklichkeit, eben das vom Ich geprägte Wesen des Menschen, der nur etwas tut, wenn er unter Druck steht, verhindert die Funktionsfähigkeit einer Schule ohne Notendruck. Daran ist ja auch der Kommunismus gescheitert, weil der Mensch nicht freiwillig bereit ist, seinen Beitrag zu leisten, und deshalb setzt der Westen auf das kapitalistische System, das den belohnt, der sich einsetzt, wenn etwas für ihn herausspringt. Das fördert aber das Konkurrenzdenken