Der Nachlass. Werner Hetzschold
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Nachlass - Werner Hetzschold страница 17
„An so etwas habe ich gar nicht gedacht“, gesteht Thomas freimütig, ich finde sie nur sehr freundlich und zuvorkommend.
Es ist Juli. Thomas ist froh, die elfte Klasse hinter sich zu wissen. Die Naturwissenschaften quälen ihn, verweigern ihm jeden Erfolg. Immer wieder stellen sie Hindernisse in den Weg, über die er stolpert. Immer wieder gefährden sie seine Existenz als Oberschüler.
Thomas steht vor dem Haus seines Freundes Volker. Im Vorgarten hinter dem schmiedeeisernen Zaun blühen Blumen. Die ergraute Fassade des Hauses sieht freundlicher aus, wenn die Sonne scheint. Rasch steigt Thomas in den dritten Stock, drückt mit Gefühl den Klingelknopf. Statt seines Freundes öffnet dessen Mutter. Freundlich lächelnd bittet sie ihn einzutreten. Im Wohnzimmer stellt Thomas fest, dass er mit dieser Frau allein ist.
„Volker hatte keine Möglichkeit, dir abzusagen. Ihr habt doch zu Hause kein Telefon, nicht wahr?“
Thomas nickt.
„Nun setz dich doch erst einmal, mein Junge. Ich beiße doch nicht.“
Thomas lässt sich in den Sessel gegenüber der Couch gleiten. In seiner Haut fühlt er sich nicht wohl. Die Gegenwart dieser attraktiven und selbstbewussten Frau beunruhigt ihn, irritiert ihn, bringt ihn in Verlegenheit.
„Die Schule liegt nun erst einmal hinter euch,“ setzt Volkers Mutter das Gespräch fort. „Ich nehme an, du hast alles gut überstanden. Und nun habt ihr erst einmal Ferien.“
Thomas nickt wieder.
„Bist du immer so gesprächig“, lacht sie und zeigt dabei ihre gepflegten Zähne.
„Es ist auch dieses Mal wieder alles gut gegangen“, Thomas hat das Gefühl zu stottern. Wieder verspürt er diesen Kloß im Hals.
„Wusste ich es doch!“
Ihre Augen begegnen sich. Sie lächelt. Er wird verlegen, senkt den Blick, dann blickt er auf, schaut ihr in die Augen, fest entschlossen, ihrem Blick standzuhalten, ihm zu widerstehen.
„Wusste ich es doch, dass du es kannst. Ich hole uns etwas zu trinken. Sicher magst du einen Cognac.“
Aus dem Schrank holt sie die Flasche, zwei Gläser. Jetzt bemerkt Thomas, dass sie unter der Schürze nur einen Büstenhalter und einen Slip trägt.
Lange, schöne, schlanke Beine hat sie, stellt er fest.
Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch, die Flasche, kuschelt sich in die Couch, zeigt dabei ihre Beine. lächelt wieder, sagt dann: „Wusste ich es doch, du traust dich nicht.“
Nervös streicht Thomas seine blonden Locken aus der Stirn, versucht gegen den Schweiß anzukämpfen, der sich auf seiner Haut zu bilden droht. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ihm fehlt die Erfahrung. Hilflos lächelt er die Frau an, wartet auf ein Zeichen von ihr.
Ermutigend lächelt sie zurück, wartet ab.
Thomas spürt, wie die Hitze in ihm aufsteigt. Er bildet sich ein, seine Ängste müssen ihm in das Gesicht geschrieben sein. Noch immer zögert er, wartet ab, ist gerade entschlossen ...
Die Frau erhebt sich von der Couch, geht um den Tisch herum, nimmt die Flasche in die Hand. Dabei berührt sie Thomas scheinbar unbeabsichtigt mit ihren langen, schlanken Beinen. Thomas spürt ihre Haut auf seiner Haut. Ihre Haut fühlt sich gut an, so weich und geschmeidig. Ohne ein Wort füllt sie die Gläser, neigt sich zu Thomas herab, flüstert kaum hörbar: „Prost“. Ihr Atem streift Thomas. Angenehm nach Pfefferminze duftet er.
„Prost“, antwortet Thomas, befürchtet, nicht gehört zu werden, zu versagen.
Ihre Gläser berühren sich.
Thomas spürt den Cognac auf der Zunge, schmeckt ihn, leert das Glas.
Die Frau lächelt. Ihre schmale Hand mit den langen Fingern umfasst die Flasche. Wieder stehen zwei gefüllte Gläser auf dem Tisch. Rotbraun schimmert ihr Inhalt in der Sonne. Thomas hat das Gefühl, seine Ängste und Hemmungen schleichen davon, seine Unbeholfenheit weicht, Mut und Entschlossenheit greifen nach ihm, geben ihm Selbstvertrauen und Sicherheit. Thomas ist zufrieden mit sich. Seine Hand sucht das Glas. Seine Fingerspitzen berühren die der Frau. Er spürt ihre Wärme. Ein Verlangen nach Zärtlichkeit durchflutet seinen Körper. Ihre Finger verschlingen sich ineinander. Ihre Blicke begegnen sich. Sie fordert ihn auf. Wieder hat er Hemmungen. Sie ist die Mutter seines Freundes. Sie ist älter als er. Sie hat einen Partner, feste Bindungen, die will er nicht zerstören. Sein Gewissen peinigt ihn. Er soll Grenzen überschreiten, die er überschreiten möchte, aber gleichzeitig auch nicht überschreiten will, weil er Angst hat. Sie ist die Mutter seines besten Freundes. Wie soll er ihm in die Augen sehen? Wie soll er in Gegenwart seines Freundes dieser Frau begegnen, die die Mutter dieses, seines besten Freundes ist? Bilder stürmen auf ihn ein, Gedanken, Befürchtungen. Was wird seine Mutter sagen, wenn sie erfährt, dass ihr Junge die Mutter seines Freundes liebt, mit ihr ... Weich und sanft ist der Druck ihrer Hand. Willenlos überlässt er sich dieser Hand, die seinen Körper streichelt, liebkost, ihn vergessen lässt. Er ist nur noch Gefühl. Er weiß nicht mehr, was mit ihm geschieht. Wie ein führerloses Schiff lässt er sich treiben. Noch nie in seinem Leben hat er so schön die Passivität empfunden. Er tut nichts und fühlt sich wie im Rausch. Ihr Mund tastet seinen Körper ab, erkundet seinen Körper. Er lässt es einfach geschehen.
Als Statisten wirken Volker und Thomas in einigen Stücken mit, so dass ihre Abende ausgefüllt sind. Wieder stehen „Die Räuber“ auf dem Spielplan. Hinter der Bühne wartet geschlossen die Statisterie. Das Stichwort ist gefallen. Wie die anderen auch stürzt Thomas die schwankende Holzstiege hinauf. Dicht hinter sich weiß er Volker. Scheinwerferlicht empfängt ihn. Er steht auf der Bühne. Die Gruppen formieren sich. Von Gruppe zu Gruppe geht Herr Schlehmilch. Jetzt nähert er sich Volker, Thomas und Matthias, sagt: „Deutlich singen, Kinder. Heute haben wir wieder ein volles Haus.“
Nun steht der Statistenchor im Mittelpunkt, trägt sein Lied vor: „Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne. Der Wald ist unser Nachtquartier. Bei Sturm und Wind hantieren wir. Merkur ist unsere Sonne.“ Nach der Vorstellung gehen Thomas und Volker mit den anderen in die Kantine. Mitunter begegnen sie dort den Schauspielern. Inzwischen kennt Thomas die Mitglieder der Statisterie, weiß, was sie beruflich tun. Aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen sie. Viele sind Oberschüler und Studenten, aber auch Arbeiter sind unter ihnen, Lehrlinge, Angestellte.
In wenigen Stunden löst das neue Jahr das alte ab. Thomas befindet sich auf dem Weg zur Schauspielschule. Er ist aufgeregt. Ein komisches Gefühl, das er nicht deuten, nicht beschreiben kann, hat er in der Magengegend. Die Straßen, die ihm vertraut sind, erscheinen ihm fremd, so als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben durchqueren. Wie ein Fremder fühlt er sich in der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Eine ehemalige Villa ist zur Schauspielschule geworden. Eine breite Treppe führt zu einer großen, schweren Tür. Hinter der Tür erwartet Thomas ein breiter Treppenaufgang mit reichverziertem Treppengeländer. Geräumig ist das Treppenhaus und vornehm. Sein Weg führt ihn nach oben. Dort empfängt ihn das nicht zu übersehende Sekretariat. Hinter einem gewaltigen Schreibtisch sitzt eine zierliche, fast zerbrechlich wirkende junge Frau mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren. Verlegenheit erfasst Thomas. Wieder befällt ihn die Angst, er könne stottern, wenn er zu sprechen beginnt. Ermutigend lächelt sie ihn an, erkundigt sich nach seinem Namen. Thomas reicht ihr die Einladung zur Prüfung. Sie fordert ihn auf, ihr zu folgen. Sie geleitet ihn in einen großen Raum, an dessen Wänden Stühle stehen. Die meisten