Der Nachlass. Werner Hetzschold
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Читать онлайн книгу Der Nachlass - Werner Hetzschold страница 18
„Hast wohl gleich die Kostüme mitgebracht“, versucht Thomas ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Genauso ist es! Ich fühle mich dann besser“, erklärt der Hagere. „Wenn ich in dem Kostüm stecke, dessen Rolle ich gerade spiele, bilde ich mir ein, wirke ich überzeugender. Ich bin sicher, ich habe die Rolle dann besser im Griff. Für mich ist das Kostüm von ausschlaggebender Bedeutung.“
Träge schleichen die Minuten dahin. Nicht nur Thomas ist die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Die Tür öffnet sich. Ein glücklich leuchtendes Gesicht stürmt aus dem Raum, schreit: „Kinder, ich habe es geschafft. Die Eignungsprüfung habe ich bestanden.“
„Das ist schon der Sechste!“, verkündet feierlich ein schwarzer Vollbart. „Die Chancen nehmen zusehends ab. Erfahrungsgemäß bestehen maximal zehn die Eignungsprüfung pro Prüfungstag. Und der Saal ist immer noch brechend voll besetzt.“
„Ach Kinder, bin ich glücklich. Ich kann es noch gar nicht fassen. Ich drücke euch allen die Daumen. Während er das sagt, nimmt seine rechte Hand die Reisetasche auf. Ich wünsche euch allen ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr. Tschüss bis zur Aufnahmeprüfung!“
„Der Beneidenswerte“, hört Thomas neben sich eine sanfte Frauenstimme.
Thomas hat gar nicht bemerkt, dass neben ihm eine tolle Blondine Platz genommen hat. Ein schmales, langes Gesicht hat sie mit großen, dunklen, schwermütig blickenden Augen. Auf Mitte zwanzig schätzt sie Thomas.
„Die erste Hürde hat er erfolgreich genommen, der Glückliche. Die meisten von uns werden hier schon stolpern und aufgeben müssen. Nicht wenige von den Ausgemusterten werden es dann im nächsten Jahr wieder versuchen. Manche kommen Jahr für Jahr, unterziehen sich erneut der Prüfung. Manche schaffen es letztlich auch, werden tatsächlich genommen. Drücke mir die Daumen!“
„Ich drücke sie ganz, ganz fest. Ich drücke sie für uns beide. Zu schön wäre es, wenn wir beide genommen werden.“
„Was wirst du denn vorspielen?“
„Den Kosinsky, den Jago und den Ferdinand.“
„Und keine Rolle aus einem zeitgenössischen Stück?“ Fragend blickt sie Thomas an.
„Muss das sein?“
„Soviel ich weiß, sieht das die Prüfungskommission gern.“
„Da habe ich wohl gleich schlechte Karten?“ Thomas kommt nicht dazu, über die von ihm getroffene Auswahl an Rollen sich den Kopf zu zerbrechen. Gerade in dem Augenblick wird sein Name aufgerufen.
Hinter ihm schließt sich die Tür. Er ist im Prüfungsraum, wird von zwölf Augenpaaren begutachtet. Manche der Gesichter kennt er von der Bühne, manche gehören auch Regisseuren. Ihre Freundlichkeit irritiert ihn. Zu viel mütterliche und väterliche Güte beunruhigt ihn. Der Gedanke, dass diese zwölf mild lächelnden Richter über seine Zukunft zu entscheiden haben, versetzt ihn in Angst, weil er sich nicht vorstellen kann, dass sie noch immer väterlich oder mütterlich milde lächeln, wenn sie ihm sein Todesurteil verkünden. In ein Gespräch wird er verstrickt. Fragen hat er zu beantworten: „Wer ist Ihr Lieblingsschauspieler? Warum? In welchen Rollen haben Sie ihn erlebt? Wer ist Ihr Vorbild? Sind Sie Mitglied einer Laienspielgruppe? Warum nicht? Warum wollen Sie ausgerechnet Schauspieler werden? Es gibt doch so viele andere interessante Berufe. Warum ausgerechnet dieser Beruf?“
Thomas beantwortet alle Fragen, erst dann darf er auf die Bretter, die für ihn die Welt bedeuten.
„Nun, junger Mann“, sagt der Leiter der Schauspielschule, „zeigen Sie uns bitte, was Sie können.“
Thomas spielt. Er rennt auf der Bühne hin und her, steigert sich in seinen Kosinsky hinein, er vergisst, wo er sich befindet. Er rast, brüllt, schreit, stellt seine zweite und dritte Rolle vor. Er ist am Ende. Den Schweiß spürt er auf der Haut. Schwer geht sein Atem.
Die Prüfungskommission berät; dann verkündet der Direktor der Schauspielschule das Urteil. Thomas hat bestanden.
Vor Freude möchte der Junge tanzen. Vor Freude möchte er schreien. Er wagt es nicht. Eine seltsame Scheu hält ihn davor zurück. Die blonde junge Frau mit dem schmalen Gesicht und den traurigen dunklen Augen gratuliert ihm.
„Ich warte auf Sie“, sagt Thomas, und er ist erstaunt, woher er den Mut so schnell genommen hat.
Als sie den Prüfungsraum verlässt, hat sie Tränen in den Augen. Thomas versucht sie zu trösten. Er nimmt ihre Reisetasche.
Gemeinsam schlendern sie durch die Stadt. Die Geschäfte haben bereits geschlossen. Stunden später steht er auf dem Bahnsteig, sie in der geöffneten Tür.
„Findest du, dass ich zu alt bin?“, fragt sie, „zu alt, um Schauspielerin zu werden?“
„Wieso das?“ Wieder ist Thomas hilflos, weiß nicht, was er erwidern soll.
Sie wartet seine Antwort nicht ab, sagt: Das war die Begründung für die Ablehnung.
Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Thomas winkt. Sie winkt.
„Nie werden wir uns wiedersehen.“ Thomas fühlt, wie eine große Traurigkeit über ihn kommt. Ich kenne ja nicht einmal ihren Namen ...
Immer wieder gefällt ihm dieses Zimmer. Immer wieder beneidet Thomas seinen Freund Volker darum. Gern hätte er auch so ein Zimmer, ein eigenes Zimmer mit eigenen Möbeln. Thomas muss sich sein Zimmer mit Gisela teilen. Für beide bringt das Probleme mit sich, weil sie aufeinander Rücksicht nehmen müssen, auf Persönliches weitestgehend verzichten müssen, denn es bleibt kaum Raum für eigene Regale, von einem eigenen Schreibtisch ganz zu schweigen. Volker besitzt das alles, wovon Thomas träumt: eigenen Schreibtisch, Bücherregale, Tonbandgerät, einen Sessel, gemütliche Couch, die gleichzeitig als Bett genutzt werden kann.
Volker und Thomas sitzen sich gegenüber, Volker auf der Couch, Thomas im Sessel. Thomas muss seinem Freund unbedingt die Neuigkeit mitteilen, dass er die Eignungsprüfung bestanden hat.
„Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn wir beide gemeinsam die Prüfung hätten ablegen können.“ Thomas gerät ins Schwärmen.
„Es sollte nicht sein.“ Volker blickt nachdenklich vor sich hin. „Es sollte eben nicht sein. So ist eben das Schicksal. Wir haben die kühnsten Träume, unsere Fantasie gaukelt uns die tollsten Bilder vor, aber die Realität bietet wenig Raum für Träumer und Fantasten.“
„Aber du bist doch weder das eine noch das andere; du bist Realist. Oder sollte ich mich täuschen?“ Thomas erkennt seinen Freund nicht wieder.