Der Nachlass. Werner Hetzschold

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Der Nachlass - Werner Hetzschold

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Dozentin muss die Ängste von Thomas erraten haben, denn gerade in dem Augenblick fordert sie ihn auf, allein die Übung nachzusprechen. Thomas hat das Gefühl, seine Kehle wird ihm zugeschnürt, er bekommt keine Luft mehr.

      „Nun, junger Mann, sprechen Sie unbesorgt nach. Wir alle sind Lernende. Keiner wird Ihnen etwas tun. Keiner wird Sie auslachen.“ Thomas kämpft mit einem Kloß in seinem Hals. Dann hört er sich sprechen, aber seine Stimme kommt ihm fremd vor, so als hätte er jegliche Kontrolle über sie verloren.

      „Keine Angst, junger Mann, das wird noch werden“, beruhigt ihn die Dozentin, „Alle haben einmal irgendwo irgendwann irgendwie angefangen. Nur Mut, junger Mann.“

      „Wir Sachsen haben es eben nicht leicht“, flüstert ihm der junge Mann neben ihm zu. „Pfiffig wie wir Sachsen sind, haben wir die Phonetik vereinfacht und auf wenige Laute reduziert, die wir mit dem uns eigenem Charme vortragen. Jeder in der Welt erkennt uns sofort als Deutsche mit dem liebenswerten, unverwechselbaren Akzent.“

      Langsam überwindet Thomas seine Scheu vor den Sprechübungen. Bald wiederholt er inbrünstig, was die Dozentin vorspricht. Nun bedauert er nicht mehr, dass er diesen Kurs belegt hat. Er ist stolz auf sich, weil er ohne fremde Hilfe sich für etwas entschieden hat, was ihm Spaß und Freude bereitet und was gleichzeitig sehr nützlich ist, denn richtig zu sprechen kann auf keinen Fall falsch sein.

      Nach Unterrichtsende verlässt Thomas gemeinsam mit dem jungen Mann den Raum.

      „Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Volker, besuche die Thomas Oberschule und will einmal Schauspieler werden.“

      Wieder bewundert Thomas dieses Selbstbewusstsein, das aber in keiner Weise überheblich auf ihn wirkt, eher wie etwas Selbstverständliches, das erreicht wird. Volker hat ein Ziel vor den Augen, auf das er ohne Hemmungen oder Ängste einfach zugeht und das er verwirklichen wird, weil er von sich überzeugt ist. Er weiß, dass er es schaffen wird, dass er erfolgreich sein wird. Sonst würde er nie, so denkt Thomas, so offen und freimütig darüber reden. Thomas dagegen hütet seine geheimsten Wünsche, niemand soll sie kennen, seine Geheimnisse, Sehnsüchte, Träume.

      An der Straßenbahnhaltestelle verabschieden sich die beiden jungen Männer voneinander. Thomas hat das Gefühl, einem Menschen begegnet zu sein, mit dem ihn mehr verbindet als nur Sympathie.

      Seine Sprechübungen nimmt Thomas sehr ernst. Täglich übt er, wenn er allein in der Wohnung ist. Selbst auf den Spiegel verzichtet er nicht. Er vergleicht seine Mundstellung mit den Anweisungen, die die Dozentin gegeben hat. Immer wieder wiederholt er Übung für Übung. Gewissenhaft kontrolliert er die Mundstellung. Dabei ermüdet er nicht, im Gegenteil, je mehr er sich mit der Phonetik beschäftigt, desto interessanter wird sie für ihn.

      Wieder ist er in seine Übungen vertieft und bemerkt nicht, dass die Mutter die Wohnung betreten hat. Für ihn völlig unerwartet steht sie vor ihm.

      „Lass das nicht deinen Vater hören. Der denkt, bei dir hat es ausgesetzt oder du willst mehr sein als wir. Er wird dir sagen, kein Mensch spricht so, zumindest kein normaler Mensch. Erst gestern hat er zu mir gesagt: Ich kann mir nicht helfen, der Junge spricht jetzt anders als früher. Er betont so die Buchstaben, spricht langsamer als sonst, irgendwie völlig anders als früher. Ich habe ihm gesagt: Das bildest du dir nur ein, Karl. So habe ich ihn erst einmal beruhigen können. Aber wie schon gesagt, auch ihm ist es aufgefallen. Und das ist nicht gut. Er braucht nicht alles zu wissen und zu bemerken. Deshalb sei vorsichtig, mein Junge.“

      Thomas steht vor dem Mietshaus, in dem Volker wohnt.

      Vornehmer sieht das Haus aus und vornehmer ist auch die Wohnlage, stellt Thomas fest, als er dieses Gebäude mit dem Haus vergleicht, in dem er mit den Eltern und Gisela lebt. Vor dem Haus hinter einem schmiedeeisernen Zaun befindet sich ein kleiner Vorgarten mit Sträuchern und Blumen.

      Zögernd öffnet Thomas die schwere Eingangstür, steigt die Stufen hinauf bis zur dritten Etage, dabei sieht er sich im Treppenhaus um. Die Farben an den Wänden sind nachgedunkelt, trotzdem sind die Muster noch deutlich zu erkennen. Sie zeigen bunte Vögel und bunte Blumen. Als das Haus noch jung war und die Farben noch frisch, muss das Treppenhaus wie ein kleines Paradies ausgesehen haben. Obwohl dieses Haus hier auch renoviert werden müsste, ist sich Thomas darüber im Klaren, dass Gohlis immer noch vornehmer ist als Stötteritz.

      Thomas steht vor einer großen, breiten, reich verzierten Wohnungstür. Wieder zögert er einen Augenblick, ist sich unschlüssig, ob er sich bemerkbar machen soll, dann hat er sich entschieden. Kräftig drückt sein Zeigefinger den Klingelknopf. Wenige Sekunden später wird die Tür aufgerissen. Volker steht vor ihm.

      „Junge, willst du die Klingel killen? Nur ganz leicht brauchst du den Klingelknopf zu berühren.“

      „Entschuldige bitte“, stammelt Thomas und spürt, wie die Verwirrung ihm die Röte ins Gesicht treibt.

      „Nun komm schon rein! Wir sind gerade dabei Kaffee zu trinken. Der Partner meiner Mutter ist auch da.“

      Zum ersten Mal in seinem Leben lernt Thomas den Partner der Mutter von einem seiner Freunde kennen, sonst wurden die Männer der Mütter Ehemann, Gatte, Vater, Stiefvater, Freund genannt. Partner klingt gut, findet Thomas, irgendwie modern.

      Als Thomas der Mutter seines Freundes gegenübersteht, wird er verlegen. Es ist die Verlegenheit, die über ihn kommt, wenn er mit einem Mädchen spricht, das ihm sehr gefällt und dem er es auch sagen möchte, dass sie ihm gefällt, es sich aber nicht getraut. In diesen Augenblicken ergreift eine Angst von ihm Besitz, die er sich selbst nicht erklären kann; er befürchtet, wenn er zu reden gezwungen ist, dann zu stottern, weil sein ganzer Körper vor Aufregung verkrampft und verspannt ist. Volker hat mit Abstand die jüngste und bestaussehende Mutter von allen Freunden und Schulkameraden. Dieses Urteil steht für Thomas unwiderruflich fest. Wie Volker hat auch die Mutter dunkle, nachdenklich blickende Augen. Ihre dunkelbraunen, leicht gewellten Haare, die bis zu den Schultern reichen und die offenbar nicht gefärbt sind, rahmen ein schmales, ausdrucksvolles Gesicht ein. Ihre Lippen wirken voll und kräftig, auch ohne Lippenstift. Sie reicht Thomas zur Begrüßung die Hand, sagt dabei etwas, was Thomas gar nicht wahrnimmt. So beeindruckt ist er von dieser Frau mit der sanften, angenehm klingenden Stimme, die in den Ohren des Jungen wie Musik sich anhört.

      Ihr Partner ist wesentlich älter als sie. Zumindest ist das der Eindruck von Thomas. Vielleicht liegt das daran, denkt Thomas, weil er lange graue Haare hat und einen langen grauen Vollbart.

      Die große randlose Brille unterstreicht noch seinen intelligenten Gesichtsausdruck. Auch dieser Mann verfügt über eine Stimme, die Thomas sehr gefällt, weil sie so volltönend und gleichzeitig weich ist.

      Nun wird Kaffee getrunken aus Tassen, die Thomas unter der Bezeichnung Sammeltassen kennt. Irgendwie hat sich Thomas den Ausdruck für ihre Farbgebung gemerkt: Kobaltblau. Volkers Mutter fragt Thomas nicht aus, wie das andere Mütter oft tun, die wissen wollen, was seine Eltern beruflich tun, wo und wie sie wohnen, wie viele Geschwister er hat. Sie erkundigt sich nach seinen Interessen, nach seinen beruflichen Wünschen. Dabei blickt sie freundlich lächelnd in die Augen des Jungen. Das verwirrt Thomas, und er hat das Gefühl, sein Gesicht läuft rot an. Auch wird ihm heiß. Er hat Angst, Schweiß könnte sich bilden. Volkers Mutter bemerkt seine Verlegenheit und wendet sich dem Teller mit dem Kuchen zu.

      „Thomas - ich darf dich doch bei deinem Vornamen nennen - möchtest du noch ein Stück Kuchen?“

      „Gern“. Wie fremd doch meine Stimme klingt! Warum bin ich immer so gehemmt, so verkrampft? Die Frau ist doch einfach eine Wucht! Sie ist so nett, so sympathisch. Und ich! Thomas ist wieder mit

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