Der Nachlass. Werner Hetzschold

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Der Nachlass - Werner Hetzschold

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Außerhalb der Stadt gibt es Wäldchen, Felder, Wiesen, Teiche, kleine Seen. Familie Boronsky liebt besonders das Oberholz, das mit der Straßenbahnlinie 15 zu erreichen ist. Von Liebertwolkwitz aus führt der Weg zwischen Feldern entlang direkt bis in diese Oase der Maikäfer.

      Thomas ist überzeugt; nirgends in der Welt gibt es so viele Maikäfer wie hier. Nur beginnt und endet die Welt für Thomas in Leipzig und Umgebung.

      Die Zeit der Maikäfer ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der Pilze gekommen. Weit auseinandergezogen durchkämmt die Familie den Wald. Thomas hört die Stimme seiner Schwester. Freudig erregt klingt sie. Thomas läuft auf die Stimme zu.

      Und da stehen seine Eltern, seine Schwester Gisela und ein Mann und eine Frau.

      Thomas nähert sich ihnen. Jetzt erkennt er den Mann, obwohl dieser Mann sich sehr verändert hat. Der Mann trägt einen Hut und keine Mütze wie Vater Boronsky. Zwischen dem geöffneten Mantel schiebt sich ein Bauch hervor. So ein Bauch fehlt auch Vater Boronsky.

      Thomas sagt immer: Mein Vater kann ja gar keinen Bauch bekommen, weil er mit dem Körper arbeitet und hinter keinem Schreibtisch sitzt.

      Mit den Worten - „das ist ja der Onkel Erich!“, - stürmt Thomas auf die Gruppe zu. Der Junge stellt fest: Onkel Erich hat sich wirklich verändert. Er ist ein Herr geworden. Nicht nur der Hut gibt darüber Auskunft, sondern sein Anzug, das Hemd, die Krawatte, seine Art, wie er spricht.

      „Aus Kindern werden Leute“, sagt der Onkel Erich.

      Bei diesen Worten verzieht seine Frau ihre schmalen Lippen zu einem schmalen Lächeln. In ihrem Kostüm mit der rosafarbenen Bluse und den Sauerstoff blonden Haaren sieht sie aus wie eine der Damen aus einer Modezeitschrift. Sie erinnert Thomas an Frau Schlundt. Nicht, dass sie wie Frau Schlundt aussieht, im Gegenteil, so attraktiv sah bestimmt Frau Schlundt in ihren attraktivsten Jahren nicht aus, sondern weil sie auch so dünn und lang ist.

      Onkel Erich erzählt. Er arbeitet wieder in seinem alten Beruf. Er ist bei der Post tätig - in gehobener Position, fügt die Frau hinzu.

      Thomas weiß jetzt, dass er nicht an irgendeinem Schalter sitzt, sondern einen eigenen Schreibtisch besitzt mit Sekretärin.

      Immer wieder stellt Thomas fest, wie sich die Leute verändern mit den Jahren. Nur seine Eltern verändern sich nicht. Sein Vater arbeitet immer noch in einer Schlosserei und seine Mutter aushilfsweise als Verkäuferin in einem Bäckerladen.

      „Wir haben uns auch verändert“, sagt der Vater, „wir sind umgezogen - in eine größere Wohnung. Die Wohnung war zu eng geworden.“

      „Wir sind aber im Viertel geblieben“, fügt Mutter Boronsky hinzu.

      „Wir wohnen hier ganz in der Nähe“, sagt Onkel Erich, der eigentlich gar nicht mehr der Onkel Erich ist, der er einmal war - der Kriegsheimkehrer und Untermieter von Frau Schlundt. „In Liebertwolkwitz haben wir ein kleines Häuschen erworben. Mitten im Grünen steht es zwischen Obstbäumen und Sträuchern.“

      „Erich, jetzt müssen wir aber weiter“, drängelt seine Frau, „sonst wird es zu spät mit dem Mittagessen.“

      „Ja, mein Hildchen.“ Die Stimme von Onkel Erich klingt sanft und weich. Dabei streichelt er ihre Hand.

      So etwas tut Vater nie, stellt Thomas fest.

      „Dann wollen wir uns verabschieden“, sagt der Onkel Erich und reicht den Borowskis zum Abschied die Hand.

      „War mir ein Vergnügen, sie alle kennen zu lernen“, flötet Hildchen.

      Thomas zweifelt an dem Vergnügen von Hildchen; er hat eher den Eindruck, dass sie nichts von der Familie Boronsky hält, dass sie, wenn es nach ihr gegangen wäre, jedes Gespräch mit dieser Familie vermieden hätte. Onkel Erich ist eben ein feiner Mann geworden.

      Als Onkel Erich und Hildchen außer Sichtweite sind, sagt Frau Boronsky zu ihrem Mann: „Wie hat sich nur dieser Mann verändert. Hast du seinen Anzug gesehen, das Hemd, die Krawatte, die Schuhe. Und wie läufst du herum. Man muss sich richtig schämen.“

      „Ich bin eben nicht so ein feiner Pinkel“, verteidigt sich Vater Boronsky, „ich mag nun eben mal keinen Schlips. Der drückt mir nur die Luft ab. Und ersticken will ich nicht. Außerdem gehen in so einem Aufzug nur Sesselpfurzer.“

      „Wir gehen nie essen“, meldet sich Gisela zu Wort, „und dabei würde ich so gerne in einer Gaststätte essen.“

      „Wir können uns solchen Luxus nicht leisten“, unterbricht sie der Vater.

      Vorbei ist es mit der Pilzesucherei. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Thomas denkt über die Ungerechtigkeit dieser Welt nach.

      Ohne Schwierigkeiten erhält Thomas von der Schule und der Schulbehörde die Genehmigung für den Besuch der Erweiterten Oberschule. Einige seiner Klassenkameraden, deren Väter Ärzte oder selbständige Handwerker sind, werden abgelehnt.

      „Wir können nur die Besten schicken“, sagt der Lehrer Herr Sanftmut.

      Wer sind nun die Besten? Bei dem Ausleseverfahren merkt Thomas, dass die Besten nicht unbedingt die Klügsten, Intelligentesten, Fleißigsten, Strebsamsten sein müssen. Persönlich sucht der Klassenleiter die Eltern von Veronika auf, wobei Veronika längst nicht so leistungsstark ist wie Michael oder Bernd. Dafür ist aber Veronika ein Mädchen, und ihr Vater ist obendrein noch von Beruf Dreher.

      Veronikas Vater gehört wie Vater Boronsky zur Arbeiterklasse. Michaels Vater dagegen und noch so manche andere Väter sind Angehörige der Intelligenz oder gar Unternehmer oder selbständige Handwerksmeister.

      „Wir müssen die Arbeiterklasse fördern“, betonen immer wieder die Lehrer.

      Umso überraschter ist Thomas, als er zu Schuljahresbeginn einige ehemalige Mitschüler wieder trifft, von denen er genau wusste, dass sie abgelehnt worden waren. Von ihnen erfährt er auch, dass einige der Abgelehnten den altsprachlichen Zweig wählten und nun die Thomas-Oberschule besuchen.

      „Ich verstehe das nicht“, sagt Thomas zu Michael, „erst lehnen sie dich ab, weil dein Vater Angehöriger der Intelligenz ist und jetzt bekommst du die Erlaubnis.“

      „Eben deshalb, weil mein Vater Angehöriger der Intelligenz ist.“ Ein vielsagendes Lächeln huscht über Michaels Gesicht. „Was wäre dieses Land für ein Land ohne seine über viele Generationen gewachsene Intelligenz? Die Intelligenz, die sie gerade dabei sind zu züchten, ist augenblicklich nicht einsatzbereit; inwieweit später, nun das wird sich zeigen. Augenblicklich sind sie noch von solchen Männern abhängig, wie mein Vater einer ist.“

      „Und dieser Abhängigkeit hast du dein Hiersein zu verdanken?“ Thomas irritiert die Selbstsicherheit, die Michael ausstrahlt.

      „So kannst du es nennen. Bestimmt wirst du auch noch im Leben nach Lösungen suchen müssen, um zu deinem Ziel zu gelangen.“

      „Auch ich habe schon nach Lösungen suchen müssen“, verteidigt sich Thomas, „damals, als ich konfirmiert werden sollte, aber auch die Jugendweihe über mich ergehen lassen musste, sonst wäre ich nicht auf die Erweiterte Oberschule gekommen. Ich hatte Glück, unser Pfarrer war freundlich. Die Konfirmation folgte einige Wochen nach der Jugendweihe. Manche Pfarrer zeigten aber für die Probleme der Jugendlichen und deren Eltern kein Verständnis, entweder weigerten sie sich zu konfirmieren, wenn die Jugendweihe

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