Der Nachlass. Werner Hetzschold
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Nikolai hält inne, denkt nach. Oft hat der Großvater den Namen Wolfgang erwähnt. Nikolai erinnert sich. Einmal hat ihm der Großvater erzählt, dass er diesem Wolfgang im Leipziger Schauspielhaus begegnet sei, als er Student war. Höchst überrascht sei er gewesen, als er erkennen musste, dass Wolfgang von Statur kleiner war als er. Und dann hatte ihm der Großvater die Geschichte erzählt, als er noch gemeinsam mit seinen Eltern in der Hofer Straße im Meyerschen Viertel gewohnt hatte. Bis in alle Einzelheiten hatte sich ihm dieses Bild eingeprägt.
Es klingelt. Er öffnet die Wohnungstür und vor ihm steht ein schick gekleideter, junger Mann, fast zwei Köpfe größer als er. Thomas ist überrascht und verwirrt zugleich. Er erkennt sofort den vor ihm stehenden Riesen in dem modernen Anzug, dem weißen Hemd, der Krawatte, deren Farbe er nicht kennt. Den Mantel trägt er offen. Der Kragen ist hochgeschlagen. Der Besuch aus dem Westen überreicht ein Buch. „Schach von Wuthenow“ heißt es. Wolfgang lädt seinen ehemaligen Klassenkameraden Thomas ein, ihn in der Märchenwiese zu besuchen. Thomas folgt der Einladung. Er zieht sich schick an: die neuste Trainingshose mit Reißverschlüssen rechts und links außen an den Beinen, sein Sonntagshemd und den Wintermantel, der zwar viel zu warm für die Jahreszeit ist, aber er war fast wie neu, als er ihn von seinem älteren Cousin erhielt. Auf dem Weg zur Märchenwiese wird ihm unangenehm warm in diesem Mantel, aber Thomas weiß, wer schön sein will, muss leiden. Ganz deutlich kann er sich an diesen Satz seiner älteren Schwester Helga erinnern. Und nun leidet er auf dem langen Weg zu Wolfgang, wundert sich dabei, dass die Menschen, denen er begegnet, recht sonderbar lächeln.
Viele Jahre mussten vergehen, bis sie sich im Leipziger Schauspielhaus gegenüberstehen. Und nun überragt Thomas um einige Zentimeter den Schulfreund von einst. Wolfgang hatte den Kontakt abgebrochen. Thomas hatte noch zwei Briefe geschrieben, die der schreibgewandte Schulfreund von einst nicht beantwortete. Mutter Boronski sagte nur: Aus den Augen aus dem Sinn! So ist das Leben, mein Junge. Trauere ihm nicht nach. Noch oft wird es dir so im Leben ergehen, dass Freunde einfach so verschwinden. Ihnen musst du keine Träne nachweinen. Sie waren eben keine Freunde, nur Bekannte, die dich eine Wegstrecke in deinem Leben begleitet haben.“ Nur kurz und knapp unterhalten sie sich. Wolfgang ist diplomierter Philosoph, hat in Frankfurt und Hamburg studiert, schreibt an seiner Doktorarbeit. Was Thomas macht, will er gar nicht wissen. Persönlich sind sie sich nicht wieder begegnet.
Nikolai erinnert sich, dass der Großvater später im Zeitalter der Computer ihm erzählte, dass er dem Namen seines Freundes aus fernen Kindertagen im Internet begegnet sei. Philosophie gehörte zu den Hobbies des Großvaters. Lachend hatte er dem Enkel die Geschichte zum Besten gegeben: „In Hanau war es gewesen. An der Berufsfachschule. Wir lehrten beide in den Klassen der künftigen Erzieherinnen und Erzieher. Wir saßen im Lehrerzimmer, und ich gab meinem Affen Zucker, ließ mich über Gott und die Welt aus. Er lachte über meine Späßchen, fragte, ob ich Philosoph sei. Natürlich, sagte ich. Nur für einen Philosophen sei die Welt erträglich, vorausgesetzt er hat als Individuum die für ihn einzig und allein gültige Philosophie entdeckt. Viele Philosophen gibt es, demzufolge auch viele Philosophien. Dagegen sei nichts einzuwenden, solange diese Philosophen keinen Schaden anrichten und ihre Mitmenschen bekehren wollen. Der junge Kollege offenbarte sich dem Großvater. Er sei studierter Diplom-Philosoph, aber trotz seines bombastischen Abschlusses hätte er keine Anstellung gefunden. Da er nicht als Taxifahrer wie andere einstige Kommilitonen arbeiten wollte, manche von denen hätten gar promoviert, hätte er sich für das Fach Deutsch als Fremdsprache entschieden und eine weitere Zusatzausbildung absolviert und ein weiteres Stück Papier mit Auszeichnung erworben. Großvater nannte ihm den Namen seines einstigen Klassenkameraden aus den fernen Kindertagen. Für den Diplom-Philosophen war der Name kein Begriff. Großvater belehrte ihn, dass sein einstiger Freund nunmehr die Titel Professor und Doktor habe und eine private Lehranstalt in der Schweiz. Der zum Berufsschullehrer mutierte Diplom-Philosoph winkte ab und sagte: Vielleicht hat ihr einstiger Freund Glück und kann seine Philosophie gewinnbringend auf dem Bildungsmarkt verhökern. Jedenfalls für mich ist er kein Begriff. Noch nie habe ich von ihm gehört. Großvater nahm im Internet oft Kontakt mit seinem ehemaligen Klassenkameraden auf, der völlig vergessen hatte in seiner Vita die Wurzeln seiner Herkunft anzugeben. Er hatte das Land der aufgehenden Sonne in seiner Entwicklung völlig ausgeblendet, mit keinem Wort erwähnt, als hätte dieses Land nie existiert. Nun war der Großvater tot. Nikolai nimmt sich vor über das Internet zu prüfen, ob dieser Dekan, der für ihn kein Begriff ist, noch unter den Lebenden weilt. Jetzt will er erst einmal weiter lesen. Das Wetter ist geradezu ideal dafür. Draußen regnetes in Strömen.
Thomas kennt die Frau, die im Hausflur liegt. Er kennt nicht den Namen dieser Frau, er kennt sie nur vom Ansehen und weiß, dass sie oft betrunken ist und dann nicht den Weg zu ihrer Wohnung im dritten Stock findet. Mit ihrem Hund, einem Boxer, bewohnt sie eine Wohnung, die einen kleinen Korridor hat. Der Hund begleitet die Frau immer, auch wenn sie nüchtern ist. Wenn die Frau nüchtern ist, sitzt sie auf einer der Bänke in der Nähe des Spielplatzes und schaut den Kindern zu. Die Kinder haben sich an den Anblick der Frau gewöhnt. Sehr dünn ist sie, geradezu zerbrechlich und sehr klein. Der Hund wirkt riesig neben ihr. Die Haut ihres Gesichtes ist fahl. Ihre Haare sind schneeweiß. Manchmal, nicht immer zittern ihre Hände. Die Kinder mögen sie, weil sie nie schimpft. Sie sagt überhaupt nie etwas. Oft schenkt sie den Kindern Süßigkeiten. Wenn sie sie verteilt, streichelt sie zärtlich über den Kopf der Kinder. Selbst die Kleinsten der Kleinen wagen sich an ihren riesigen Boxer heran und kuscheln sich an sein weiches Fell. Ruhig bleibt der Hund, wenn die Kleinen ihn mit Zärtlichkeiten verwöhnen. Geduldig lässt er ihre vielen Streicheleinheiten über sich ergehen.
Inzwischen haben sich viele Schaulustige eingefunden, halten Abstand zu der Frau, die von ihrem Boxer beschützt wird. Friedlich, als wäre sie tot, liegt die Frau da, friedlich, aber die Neugierigen nicht aus den Augen lassend, liegt der Hund neben ihr.
Eine alte Frau, die im gleichen Haus wohnt wie die Frau mit ihrem Boxer, ruft ungeduldig: „Nun tut doch mal etwas, statt hier herumzustehen.“
Ein junger, kräftiger Mann fühlt sich angesprochen. „Man sollte sie hinauftragen“, sagt er, „sonst erkältet sie sich noch auf den Steinstufen.“ Er nähert sich der Frau.
Der Hund lässt ihn nicht aus den Augen. Der junge Mann zögert, wagt wieder einige Schritte nach vorn. Der bis dahin friedlich daliegende Hund erhebt sich, zeigt die Zähne. Der junge kräftige Mann tritt den Rückweg an, dabei verkündet er laut: „Ich bin doch nicht lebensmüde.“
„Der Dürre muss her!“, meldet sich eine Frau in mittleren Jahren zu Wort.
Der Dürre wird geholt. Sonst trägt er eine Polizeiuniform. Alle im Viertel wissen, er ist ein hohes Tier bei der Polizei, er muss keine Streife gehen.
Der Dürre erscheint. Ohne zu zögern geht er auf den Hund zu, der sich bei seinem Anblick erhebt, den Dürren schwanzwedelnd begrüßt, die Zähne dabei zeigt, aber so, als wolle er lächeln.
Der Dürre, der noch dazu klein ist, streichelt den Hund, flüstert ihm etwas Freundliches zu; dann hebt dieser schmächtige, unscheinbare Mann die kleine, schmächtige, unscheinbare Frau in die Höhe, nimmt sie in die Arme wie ein Baby und trägt sie die Stufen hinauf. Unauffällig unaufdringlich folgt ihnen der Hund.
Eines Tages ist die schmächtige unscheinbare, kleine, weißhaarige Frau aus ihrer großen Wohnung verschwunden. Alle wissen genau, sie ist nicht nach dem goldenen Westen gegangen; aber wohin sie gegangen ist, weiß auch niemand genau. Die Leute reden, ohne zu wissen. Nur alle wissen, nachdem sie fortgezogen ist, dass sie eine Jüdin war, die als einzige ihrer Familie das Konzentrationslager überlebt