Der Nachlass. Werner Hetzschold
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Weil die Mutter sich freut, freuen sich die Kinder. Sie wissen, ihre Mutter hat sonst wenig Gelegenheit zur Freude.
Als Thomas von der Schule nach Hause kommt, sitzt Frau Schlundt bei seiner Mutter in der Küche. Richtig verheult sieht das Gesicht der Frau Schlundt aus, verquollen und aufgedunsen. Beide müssen sich angeregt unterhalten haben, jetzt aber, da Thomas in der Küche ist, verstummt das Gespräch sofort. Das verunsichert Thomas, gleichzeitig macht es ihn neugierig. Nur kann er seine Neugierde nicht befriedigen. Seine Mutter schickt ihn ins Nebenzimmer, weil sie Wichtiges, wie sie sagt, mit Frau Schlundt zu besprechen hat. Wenn Frau Schlundt bei einer solchen Besprechung wie ein Schlosshund heult, muss es tatsächlich etwas sehr Wichtiges sein. Lange muss sich Thomas in der Stube gedulden und seinen Wissensdrang bezwingen. Er lenkt sich ab und vertieft sich in sein aus der Bibliothek ausgeliehenes Indianerbuch. Nur will ihm das nicht völlig gelingen. Die Neugierde meldet sich immer wieder und will wissen, was mit Frau Schlundt los ist. So viel ist Thomas klar: Es muss etwas ganz Außergewöhnliches sein, dass Frau Schlundt zu Tränen rührt, sonst würde nämlich die Frau keine Träne verlieren. Viel Zeit - Thomas kommt es wie eine Ewigkeit vor - ist verstrichen, bis ihn seine Mutter in die Küche ruft.
Seine Mutter sagt: „Hör gut zu, mein Junge. Der Untermieter von Frau Schlundt ist auf und davon. Niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Nun hat sich Frau Schlundt schweren Herzens entschlossen, ihre Wohnung aufzugeben und ins Stift zu gehen. Wie sie sagt, bekommt sie ein schönes großes Zimmer mit Fenster zum Park Ihre Möbel will sie verkaufen bis auf die, die sie mitnehmen möchte. Für ihren Transport benötigt sie aber keinen Möbelwagen. Nun lässt sie dich durch mich fragen, ob du ihr beim Umzug behilflich sein könntest. Sie will sich auch erkenntlich zeigen. Ich habe schon zugesagt. Und du wirst doch deine Mutter nicht enttäuschen und ihr zur Hand gehen.“
Seiner Mutter zuliebe sagt Thomas ja. Er möchte ihr eine große Freude bereiten.
Abends nach dem Abendbrot sagt seine Mutter zum Vater, nachdem die Kinder sich in die Stube zurückgezogen haben: „Hast du schon gehört, Karl, der Schlundten ihr Untermieter ist abgehauen. Niemand hat eine Ahnung, wo er abgeblieben sein könnte. Alle wissen nur, er ist spurlos verschwunden, einfach abgetaucht.“
„Bei dem Drachen hält es doch keiner aus.“ Mehr hat Herr Boronsky nicht zu sagen.
Als an diesem Sonnabend Thomas von der Schule nach Hause kommt, wird er mit Ungeduld von Frau Schlundt erwartet. Hoch oben am Himmel steht die Sonne und heizt die Stadt auf. Wie seine Klassenkameraden würde Thomas lieber diesen Tag im Freibad verbringen, aber die Pflicht ruft, die ihm seine Mutter in ihrer Gutmütigkeit eingebrockt hat. Die Mutter will er nicht enttäuschen, deshalb fügt er sich in sein Schicksal, trinkt nur zwei Tassen gesunden Kamillentee, um seinen Durst zu löschen. Dann klopft er an die Tür der Frau Schlundt. Sie muss hinter der Tür gelauert haben, denn gleich nach dem ersten Klopfer wird die Tür aufgerissen, und Frau Schlundt steht vor ihm. Ihre Kleidung sieht gar nicht nach Arbeit aus. Sie trägt einen bunten Blumenrock, eine weiße Bluse. Ihre Füße stecken in Stöckelschuhen.
„Fein, dass du da bist“, empfängt sie Thomas, „wir gehen gleich nach dem Wagen.“
Nur ein paar Häuser weiter steht vor dem Hauseingang ein großer Leiterwagen für Frau Schlundts Umzug bereit. Thomas darf sich davor spannen und ihn ziehen, während Frau Schlundt neben ihm daher trippelt und lobt: „Du bist ja ein großer, kräftiger Junge. Für dich ist so ein Wagen eine Kleinigkeit.“
Thomas zieht es vor zu schweigen.
Frau Schlundt lässt nicht locker: „Sonst aber bist du gesprächiger. Hattest du Ärger in der Schule?“
„Ich fühle mich nicht wohl.“
„Wie kann sich ein so großer Junge wie du bei diesem Wetter nicht wohl fühlen?“
Wieder denkt Thomas daran, was er der Mutter versprochen hat.
Als Frau Schlundt ihre Wohnungstür aufschließt, sagt sie: „Ich nehme nur Kleinigkeiten mit.“ Beim Betreten der Wohnung stellt der Junge fest, dass sie bereits ziemlich ausgeräumt ist.
„Die Schränke habe ich schon ins Stift bringen lassen. Es sind nur noch einige Kleinigkeiten, die ich dorthin bringen möchte. Und du bist so nett, mir dabei behilflich zu sein. Zuerst nimm bitte die Kartons. Aber sei vorsichtig. In ihnen befindet sich mein Porzellan.“
Während Thomas vorsichtig den Handwagen mit dem Porzellan belädt, steht Frau Schlundt daneben und bewacht die teure Fracht.
„Wir wollen den Wagen nicht überladen, ruft sie besorgt aus. Schließlich sind es Kostbarkeiten, die ich dir anvertraue.“
Wieder spannt sich Thomas vor den Wagen, während Frau Schlundt neben ihm daher tänzelt und immer wieder besorgt ausruft: „Bitte vorsichtig! Nicht so schnell! Vorsicht! Bordsteinkante!“
Sie erreichen das Stift, das von einem kleinen Park umgeben ist.
„Die Bäume lassen wenig Licht in die Zimmer dringen“, sagt nachdenklich Frau Schlundt, „trotzdem sind Bäume schön. Sie machen ihre Umgebung lebendiger.“
Thomas hätte hier nicht wohnen mögen. Aus den geöffneten Fenstern schauen nur alte Leute. Ihre Gesichter sehen viel älter aus als das von Frau Schlundt.
„Ist der Kleine aber fleißig“, sagt eine alte Frau.
Thomas schleppt das Porzellan in den dritten Stock. Dort befindet sich das Appartement der Frau Schlundt, wie diese das Zimmer mit der kleinen Küche bezeichnet. Obwohl die Sonne ihre heißen Strahlen zur Erde schickt, hierher in Frau Schlundts Appartement verirrt sich kein einziger. Thomas friert. Er beeilt sich, dieser Kälte entfliehen zu können. Noch drei Fuhren warten auf den Jungen; erst dann befinden sich die wenigen Habseligkeiten, wie Frau Schlundt mitunter ihre Besitztümer nennt, im Stift.
Als roter Feuerball erscheint die Sonne am Himmel. Langsam weicht der Tag der Nacht. Thomas ist müde und hat Hunger. Auch Frau Schlundt ist froh, als der Umzug abgeschlossen ist. Als sich Thomas von ihr verabschiedet, sagt sie: „Der liebe Gott wird dich für deine gute Tat belohnen.“
Thomas tritt mit dem Leiterwagen den Heimweg an, bringt ihn zurück zu seinem Besitzer. Mit Ungeduld erwartet die Mutter ihren Jungen.
„Es ist schon sehr spät“, sagt Frau Boronsky, „Ich habe mir Sorgen gemacht, aber jetzt bist du da.“
„Und hat sie dich wenigstens ordentlich bezahlt“, lässt sich der Vater hören.
Thomas wird verlegen, bevor es über seine Lippen kommt, dann sagt er: „Eigentlich nicht. Sie hat beim Abschied gemeint, der liebe Gott wird mich für meine guten Taten belohnen.“
„Alter