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      Bestimmt hat Frau Schlundt auch im Stift die Sonne vermisst oder ist über den Verlust von Onkel Erich nicht hinweggekommen. Als Thomas von der Schule nach Hause kommt, sagt ihm die Mutter: „Erinnerst du dich noch an die Frau Schlundt? Sie ist gestorben. Gar nicht alt ist sie geworden. Und ich wusste gar nicht, dass sie eine Tochter hat. Die Anzeige in der Zeitung hat ihre Tochter aufgegeben. Nie habe ich eine Tochter gesehen. Eigenartig!“

      Wolfgang hat Geburtstag. Thomas erhält eine Einladung. Wolfgang wohnt in einer der vornehmen Gegenden der Stadt. In Marienbrunn gibt es keine Mietshäuser, nur Einfamilienhäuser mit Garten. Diese Häuser haben viele Zimmer, sogar Besucherzimmer. Wolfgang führt Thomas in sein Zimmer, das größer ist als die Wohnstube der Familie Boronsky. Wolfgang hat einen eigenen Schreibtisch und Bücherregale mit vielen Büchern.

      „Hast du die alle gelesen?“ Die Augen von Thomas wandern von Bücherreihe zu Bücherreihe.

      „Fast alle.“ Thomas mag dieses Lächeln an Wolfgang nicht. Es drückt so viel Überlegenheit aus. Bei diesem Lächeln fühlt sich Thomas klein und unbedeutend. Trotzdem kämpft er gegen dieses dumme Gefühl an. Seine innere Stimme flüstert ihm dann zu: „Du bist auch wer, Thomas Boronsky. Zwar hast du keinen Privatunterricht in Englisch und Französisch, aber deshalb bist du kein schlechterer Mensch als Wolfgang.“

      Wolfgang zeigt ihm den Garten.

      „Ihr habt sogar Hühner!“ Thomas ist begeistert. Er mag Tiere.

      „So haben wir wenigstens frische Eier.“ Wieder bemerkt Thomas dieses überhebliche Lächeln.

      „Nur haben sie wenig Raum, sich zu bewegen“, setzt Thomas das Gespräch fort.

      „Wir lassen sie in Abständen im Garten etwas herum scharren. Wir können sie ja jetzt etwas laufen lassen.“ Während er das sagt, öffnet Wolfgang die Tür der mit Draht eingezäunten Ecke zwischen Nebengebäude und Haus.

      Thomas kann die Hühner nicht verstehen. Statt aus ihrem engen Auslauf auszubrechen, nehmen sie von der geöffneten Tür keine Notiz.

      „Sie sind eben doof. Nur zum Eierlegen und Schlachten zu gebrauchen.“ Wolfgang begibt sich in den Hühnerauslauf und treibt die sechs Hühner aus ihrem Verlies in den Garten. Verlassen irren die Hühner in der ihnen für kurze Zeit gewährten Freiheit umher.

      „Habe ich es nicht gesagt, sie sind doof. Kaum dürfen sie ihre paar Quadratmeter verlassen, verlieren sie den Überblick. Weißt du was“, dabei verwandelt sich das hochmütige Lächeln von Wolfgang in ein boshaftes Grinsen, „wir spielen Kommunisten und SS. Wir sind die SS, und die Hühner sind die Kommunisten.“

      Bei dem Gedanken, die Rolle der SS zu übernehmen, fühlt sich Thomas nicht wohl. Auch Kommunist möchte er nicht sein.

      „Können wir nicht etwas anderes spielen? Und die Hühner im Garten einfach in Ruhe herum picken lassen.“

      „Die machen nur Schaden. Die müssen beaufsichtigt werden. Wie die Kommunisten! Du kannst mir glauben, dieses Spiel macht Spaß.“

      „Ich will es aber nicht spielen.“ Am liebsten würde jetzt Thomas Wolfgang stehen lassen und nach Hause gehen, aber er möchte nicht unhöflich sein. Als er seiner Mutter von der Einladung erzählte, sagte sie: „Gehe mal hin, mein Junge. Das sind sehr feine Leute. Der Mann ist Lehrer, und die Frau ist Ärztin. Das ist ein sehr guter Umgang für dich. Vielleicht färben die guten Manieren auf dich ab.“

      „Den Kommunisten werde ich es jetzt zeigen“, steigert sich Wolfgang in seine Rolle. „Eine kleine Jagd nach ihnen wird allen guttun.“ Mit diesen Worten scheucht Wolfgang die eingeschüchterten Hühner durch den Garten, wirft mit kleinen Holzstücken nach ihnen, um sie nicht ernsthaft zu verletzen. „Und lasst euch ja nicht einfallen, keine Eier nach diesem Vergnügen zu legen.“

      Die Hühner wissen, wohin sie gehören. Kaum hatten sie ihr Verlies verlassen müssen, werden sie dorthin zurückgetrieben.

      Kommunisten gehören eben hinter Schloss und Riegel. Zufrieden mit sich und der Welt schließt Wolfgang die Drahttür.

      Die Jungen kehren zurück ins Haus, ziehen sich in Wolfgangs Zimmer zurück.

      „Wenn du willst“, sagt Wolfgang, „kann ich dir Bücher ausleihen. Du brauchst mir dafür nichts zu geben.“

      „Ich danke dir für das großzügige Angebot“, hört sich Thomas sagen, „aber ich bin Leser der Bibliothek. Da brauche ich auch nichts für die Bücher bezahlen.“

      „Aber in der Bibliothek kannst du nicht jedes Buch ausleihen. Viele der Bücher, die ich besitze, wirst du in der Bibliothek umsonst suchen. Alle Bücher, die drüben veröffentlicht werden, findest du hier in keiner Bibliothek. Sie sind nämlich verboten. Und ich habe viele solcher verbotenen Bücher.“

      Die Klingel unterbricht Wolfgangs Wortschwall.

      „Das werden sie sein. Ich gehe nach unten um zu öffnen“. Kurz darauf taucht Wolfgang mit zwei Jungen auf, die etwas älter als er und Thomas sind, aber auch die 28. Grundschule besuchen.

      „Ihr kennt euch ja alle“, stellt sie einander Wolfgang vor.

      Die Jungen unterhalten sich über das Fernsehprogramm und über Filme, die Thomas nicht kennt. Seine Eltern besitzen keinen Fernsehapparat. Sie tauschen ihre Gedanken aus über ihre Englisch-, Französisch- und Lateinstunden, die sie bei Privatlehrern erhalten. Sie sind sich einig darüber, dass die Kenntnis von Fremdsprachen notwendig sei, um im späteren Berufsleben Karriere machen zu können. Thomas kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Jungen haben klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie wissen genau, welchen Beruf sie einmal ergreifen wollen. Thomas weiß noch nicht, was er einmal werden soll, er weiß nur, dass er keinen Handwerksberuf erlernen wird, weil er zwei linke Hände hat, wie seine Eltern immer wieder betonen. Die Jungen wechseln das Thema. Sie sprechen über Musik, über ihren Klavierunterricht. Thomas kennt keine Noten, er weiß nicht, was ein Notenschlüssel ist. Der Begriff Partitur ist ihm fremd. In der Gemeinschaft dieser Jungen fühlt er sich nicht wohl. Die Gründe kann er nicht in Worte fassen, weil er nicht einmal die Ursachen für dieses unaussprechliche Unbehagen kennt. Ihn bedrängt die Vorstellung, diesen Jungen weit unterlegen zu sein.

      Nach dem Abendbrot wird gespielt. Auch Wolfgangs Eltern beteiligen sich daran. Nach dem Allgemeinwissen wird gefragt. Wann welcher Dichter geboren oder gestorben ist oder beides, welche Werke er geschrieben hat, Zahlen und Ereignisse aus der Geschichte stehen im Mittelpunkt, aber auch die Kenntnisse in den Naturwissenschaften werden geprüft. Thomas bildet mit Abstand das Schlusslicht. Er spürt, wie eine große Traurigkeit in ihm aufsteigt, er muss die Tränen unterdrücken.

      Es ist dunkel, als er sich von Wolfgang, dessen Eltern und Wolfgangs Freunden verabschiedet. Die Straßenlaternen weisen ihm den Weg. Er lässt die Märchenwiese hinter sich zurück, in der Wolfgang und dessen Freunde zu Hause. sind. Eine tiefe, fast unheimliche Stille umgibt Thomas. Die Grundstücke hinter den mit dichten Hecken bewachsenen Zäunen grenzen Thomas aus, gewähren ihm keinen Einblick. Hier ist er ein Fremder. Die Märchenwiese gehört Wolfgang und dessen Freunden.

      Einsam sucht sich Thomas seinen Weg, seine Gedanken kreisen um sein Nichtwissen. Er überlegt, wie er sich auch dieses Wissen und noch anderes Wissen, das Wolfgang und dessen Freunde nicht haben, aneignen kann. Er sucht nach Möglichkeiten, wie er diese Zielstellung verwirklichen kann.

      Am Ende der Sommerferien erhält Thomas einen Brief. Die Briefmarke auf dem Umschlag signalisiert ihm, woher der Brief

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