Krieg und Frieden. Лев Толстой
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»Mein Gott, wie diese Besuche mich erschöpft haben! Und nun noch diese, sie ist so langweilig! Ich lasse bitten, einzutreten!« rief sie traurig dem Diener zu, als ob sie sagen wollte: »Oh, das wird mein Ende sein!«
Eine große, starke Dame mit hochmütiger Miene trat in den Salon, in Begleitung eines jungen Mädchens mit rundem und lachendem Gesicht. Man hörte das Rauschen ihrer Schleppkleider.
»Teuerste Gräfin! … Wie lange schon! … . Sie hat zu Bett gelegen, das arme Kind … auf dem Ball bei Rasumow und der Gräfin Apraxin … ich war so glücklich!«
Diese Höflichkeiten in abgebrochenen Sätzen mischten sich mit dem Rauschen der Kleider und dem Geräusch der herbeigerückten Stühle. Dann ging die Unterhaltung wohl oder übel vor sich, bis zu dem Augenblick, wo man bei einer ersten Pause sich mit Anstand erlauben konnte, die Sitzung aufzuheben und Abschied zu nehmen mit den stereotypen Redensarten: »Je suis bien charmée«, – »la santé de maman«, – »la comtesse Apraxine.«
Die Krankheit des alten Grafen Besuchow, eines der schönsten Männer der Zeit Katharinas, diente zum Stoff der Unterhaltung. Man sprach sogar auch von seinem natürlichen Sohne Peter, demselben, der sich auf der Soiree von Fräulein Scherer so ungeschickt benommen hatte.
»Ich beklage wirklich den armen Grafen«, sagte Madame Karagin, »seine Gesundheit ist so schwach, und einen Sohn zu haben, der ihm solchen Kummer macht!«
»Was für einen Kummer?« fragte die Gräfin, als ob sie nichts wüßte, während sie doch die Geschichte wenigstens schon fünfzehnmal gehört hatte.
»Das sind die Früchte der heutigen Erziehung! Der junge Mann ist sich ganz selbst überlassen gewesen, als er im Ausland war, und jetzt erzählt man schreckliche Geschichten, die er in Petersburg gemacht hatte, so daß er auf Befehl der Polizei die Stadt verlassen mußte.«
»Wirklich?« fragte die Gräfin.
»Er ist in schlechte Gesellschaft geraten«, fügte die Fürstin Drubezkoi hinzu, »und mit dem Sohn des Grafen Wassil und einem gewissen Dolochow zusammen haben sie Grässlichkeiten begangen. Dolochow hat man zum Soldaten gemacht und den Sohn Besuchows nach Moskau verwiesen. Anatols Vater, Fürst Wassil Kuragin, ist es gelungen, den Skandal zu vertuschen, aber man hat ihn auch aus Petersburg verwiesen.
»Aber was haben sie denn gemacht?« fragte die Gräfin.
»Es sind wirkliche Räuber, besonders Dolochow«, erzählte Madame Karagin. »Stellen Sie sich vor, sie haben, ich weiß nicht wo, sich eines jungen Bären bemächtigt, ihn in ihrem Wagen zu Aktricen mitgenommen. Die Polizei wollte sie verhaften, aber denken Sie sich, sie haben den Polizeioffizier ergriffen, dem Bären auf den Rücken gebunden und ihn mit dem Polizisten auf dem Rücken in die Moika gejagt.«
»Ach, ma chère, wie spaßhaft muß der Mensch ausgesehen haben!« rief der Graf, laut auflachend.
»Aber das ist ganz abscheulich, dabei gibt es nichts zu lachen, cher comte!« rief Madame Karagin, und wider Willen platzte sie ebenso heraus wie der Graf.
»Es hat viel Mühe gekostet, den Unglücklichen zu retten, und wenn man bedenkt, daß der Sohn des Grafen Besuchow sich auf so unsinnige Weise amüsiert! Er galt doch für einen intelligenten, gut erzogenen Menschen! Nun, ich hoffe, man wird ihn nirgends empfangen, trotz seines Vermögens. Man hat ihn mir vorstellen wollen, aber ich habe diese Ehre sogleich abgelehnt; ich habe Töchter!«
»Wo haben Sie denn erfahren, daß er so reich ist?« fragte die Gräfin, indem sie den Fräulein den Rücken wandte, die sich sogleich anstellten, als ob sie nichts hörten. »Der alte Graf hat nur natürliche Kinder, und Peter ist eins davon, glaube ich.«
Madame Karagin machte eine Handbewegung. »Ich glaube, es sind ihrer zwanzig.«
Die Fürstin Drubezkoi, welche vor Verlangen glühte, mit ihren Beziehungen zu prahlen, ergriff das Wort und sagte leise mit wichtiger Miene: »Das will ich Ihnen sagen. Der Ruf des Grafen Besuchow ist bekannt. Er hat so viele Kinder, daß er selbst nicht die Zahl weiß, aber Peter ist sein Liebling.«
»Was für ein schöner Greis war er noch vor einem Jahr«, sagte die Gräfin. »Oh, er hat sich seitdem sehr verändert. Apropos, ich wollte Ihnen sagen, daß der nächste Erbe seines ganzen Vermögens der Fürst Wassil ist, durch seine Frau, aber der Alte hatte eine Vorliebe für Peter, hat sich viel mit seiner Erziehung beschäftigt und an den Kaiser über ihn geschrieben. Deshalb kann niemand sagen, wem von beiden die Erbschaft zufällt nach seinem Tod, den man in jedem Augenblick erwartet, Peter oder dem Fürsten Wassil. Das Vermögen ist kolossal, vierzigtausend Seelen und Millionen an barem Kapital. Ich weiß es aus sicherer Quelle, nämlich vom Fürsten Wassil selbst. Der alte Besuchow ist auch ein bißchen verwandt mit mir durch seine Mutter, und er ist der Taufpate von Boris«, fügte sie hinzu.
»Fürst Wassil ist seit gestern Abend in Moskau. Er hat einen dienstlichen Auftrag erhalten.«
»Ja, aber unter uns gesagt, das ist nur ein Vorwand, er ist nur gekommen, weil er erfuhr, daß das Befinden des Grafen Besuchow schlimmer ist als je.«
»Aber die Geschichte ist doch sehr gut«, wiederholte der Graf lachend. »Sie kommen doch zu Tisch, nicht wahr, ma chère?«
11
Tiefes Stillschweigen trat ein. Die Gräfin sah Madame Karagin mit freundlichem Lächeln an, ohne einen Versuch zu machen, ihre Befriedigung darüber, daß sie ging, zu verbergen. Die Tochter der Madame Karagin nahm ihr Kleid zusammen mit einem fragenden Blick nach ihrer Mutter, als man plötzlich die Schritte mehrerer Personen im Nebenzimmer vernahm. Ein Stuhl wurde umgeworfen und ein junges Mädchen von dreizehn Jahren, welches das Musselinkleid aufgenommen hatte und etwas darin trug, stürzte mitten in den Salon und blieb verdutzt stehen. In demselben Augenblick erschien ein Student in seiner Uniform und ein Gardeoffizier, sowie ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren und ein kleiner Knabe in kurzem Jäckchen mit erhitztem Gesicht. Der Graf erhob sich tänzelnd und erfaßte das junge Mädchen mit seinen Armen.
»Ah, da ist sie!« rief er. »Heute ist ihr Namenstag.«
»Alles hat seine Zeit, meine Liebe«, sagte die Gräfin mit erheuchelter Strenge. »Du verwöhnst sie immer, Elias.«
»Guten Tag, meine Liebe, ich wünsche Ihnen Glück zum Namenstag! Ein reizendes Kind!« sagte Madame Karagin zur Mutter gewendet.
Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Augen und seinem etwas zu großen Mund war eher häßlich als hübsch, dafür aber von einer unvergleichlichen Lebhaftigkeit. Sie war noch außer Atem vom heftigen Lauf, ihre schwarzen, ganz zerzausten Haare fielen rückwärts herab, ihre nackten Arme waren dünn und schmächtig. Sie trug noch Beinkleider mit Spitzenbesatz und Schuhe an ihren kleinen Füßchen, mit einem Wort, sie war in diesem hoffnungsvollen Alter, wo das kleine Mädchen kein Kind mehr – das Kind aber noch kein junges Mädchen ist. Sie entschlüpfte ihrem Vater und stürzte auf ihre Mutter zu, ohne im geringsten auf den erhaltenen Verweis zu achten. Sie verbarg ihr Gesicht in dem Spitzendickicht, mit dem das Kleid der Gräfin besetzt war, brach in lautes Lachen aus und erzählte hastig eine Geschichte von ihrer Puppe, die sie dabei aus ihrem Rock hervorzog.
»Du siehst ja, es ist meine Puppe, Mimi.« Natalie konnte kaum sprechen, ließ sich auf die Knie der Mutter nieder und lachte so herzlich, daß Madame Karagin nicht umhin konnte, mitzulachen.