Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
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Als Uwe am nächsten Tag in der Nikolaistraße ankam, zerstreut und innerlich sozusagen total kaputt, erwartete ihn der Chef mit einer Überraschung. Er hielt einen Arbeitsmantel für ihn bereit, ein dunkelgraues schickes Stück, das ihm haargenau passte. Erna und Dietrich bekundeten mit beifälligem Nicken ihr Einverständnis. Jetzt war er also aufgenommen in die Gilde der Setzer und Drucker.
Die Arbeit, sonnabends gar bis fünfzehn Uhr, forderte von Uwe durchaus Aufmerksamkeit und auch Kraft. Die ersten Tage hatte sein Chef sogar Sorge, ob Uwes Sehvermögen für die Setzerei überhaupt ausreiche. Uwe trug ja Brille. Doch die Bedenken ließen sich zerstreuen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten am Setzkasten, beispielsweise die Buchstaben b und p klar zu unterscheiden, die manchmal leider falsch abgelegt waren, kam Uwe immer besser zu recht.
Eigentlich, fand er heraus, war Schriftsetzer ein prima Beruf. Sobald er nämlich nur ein wenig Routine hatte und der kritische Chef sich nicht in der Nähe aufhielt, also vorn in seinem Büro weilte oder hinten im Papierlager, konnte Uwe am Setzkasten rein mechanisch die Buchstaben aufnehmen und im Winkelhaken aufreihen, mit seinen Gedanken aber währenddessen sonst wohin abschweifen. Das konnte zwar fatal sein, wenn sich nämlich bei solcher Arbeitsweise zu viele Fehler einschlichen, war aber im Grunde eine famose Möglichkeit, zu arbeiten und zugleich zu träumen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Uwe hatte ja immer irgendwelche Probleme, über die er nachdenken musste.
19. Finger von der Politik lassen
Uwe ärgerte sich mittlerweile, in eine Partei eingetreten zu sein. Einer angeblich christlichen! Er jedenfalls fand es nach wie vor gar nicht christlich von dem Adenauer, die Mitglieder seiner Partei im Osten einfach abzuschreiben.
Wahrlich irre, was sich seit Kriegsende in Deutschland so abspielte! In den Westzonen der Amerikaner, Engländer und Franzosen hatten die neuen Mächtigen ihren Staat etabliert und die übrigen Deutschen einfach ausgesperrt. Logisch, dass die Russen aus ihrer Zone nun auch einen Staat machen wollten.
Verdrießlich allerdings, wenn dies wirklich ohne Wahlen passieren würde. Am 4. Oktober notierte Uwe in seinem Tagebuch: „Am Abend gehen merkwürdige Meldungen durch den Äther. Eine Ostzonen-Regierung soll angeblich ohne Wahlen gebildet werden. Gegen 22 Uhr schnappe ich eine kurze Meldung auf, nach der Otto Nuschke gesagt haben soll, dass diese Regierung sich aus allen Parteien zusammensetze. Wahlen sollen nach einem baldmöglichen Termin folgen. Was soll das werden? Volksdemokratie? Diktatur der SED?“
Fragen über Fragen! Und keine Ende! Regelmäßig landete diese oder jene Schlussfolgerung, die Uwe an seinem Setzkasten zwischen großen und kleinen bleiernen Buchstaben gebar, abends im Tagebuch. So schrieb er am 2. November: „Komme zu der Ansicht, dass Politik immer verlogen und schlecht ist und dass es besser ist, die Finger von der Politik zu lassen. Man fühlt so gewiss besser im Leben, man lebt friedlicher, ruhiger und glücklicher.“
Derlei fatale Quintessenz war das Ergebnis aktueller deutscher Politik der Wochen zwischen Oktober und November 1949. Die Mächtigen drüben hatten ihre Regierung, und die Mächtigen hier nun auch.
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