Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie. Siegfried Placzek
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Steyerthal findet die Möbius'sche Definition schon an sich höchst anfechtbar, weil sich keine Grenze ziehen lässt, wo die durch Vorstellungen hervorgerufene krankhafte Veränderung des Körpers beginnt. A priori ist ja die Umsetzung von Vorstellungen in körperliche Veränderungen nichts Krankhaftes. Wenn der Mensch vor Scham errötet und vor Scham erblasst, wenn Schreck ihn lähmt oder sein Haupthaar in einem Augenblicke bleicht, so ist das wohl eine unmittelbare Umsetzung psychischer Vorgänge in körperliche Erscheinungen, doch keine Hysterie. Wo verläuft also die Grenze, jenseits derer solch Vorgang als hysterisch abzustempeln ist? Möbius hilft sich, indem er sagt: »Jeder Mensch ist etwas hysterisch«. Doch nicht bei jedem Menschen erfolgt die Umsetzung von Vorstellungen in krankhafte körperliche Erscheinungen, und sicherlich nicht mit besonderer Leichtigkeit. Deshalb will Steyerthal diese Vorgänge, die Möbius als hysterisch ansieht, nur als Symptome eines zugrunde liegenden Übels, der Nervenschwäche angesehen wissen.
»Weil ein Individuum nervenschwach ist oder degeneriert oder imbezill oder psychopathisch minderwertig, deshalb wirkt schon ein packender Gedanke, ein Schreck oder ein sonstiges Ereignis als deletärer Faktor.«
Mit dieser Annahme bestimmter Voraussetzungen für das Zustandekommen der Hysterie ist Steyerthal im Einklang mit Hoche, der eine gesteigerte Emotivität und die reizbare Schwache des Zentralnervensystems als Voraussetzungen fordert, wenn Vorgänge eintreten sollen, wie sie Möbius beschreibt.
Versteht man aber unter Hysterie eine pathologisch gesteigerte Suggestibilität und Autosuggestibilität, so beginnt die Schwierigkeit bei der Grenzbestimmung. Das Maß der suggestiven Beeinflussbarkeit ist, wie Bumke l. c. mit Recht betont, nicht nur individuell verschieden, sondern hängt auch von äußeren Umständen und der jeweiligen körperlichen Verfassung des Einzelnen ab. »Darauf beruhen die psychogenen Erscheinungen im Beginn mancher organischen Gehirnkrankheiten nach gewissen Vergiftungen und Infektionen, sowie endlich im Gefolge seelisch erschütternder Ereignisse. Die normale Suggestibilität ist viel größer, als man gewöhnlich glaubt. Empfindungen, Bewegungen und sogar Reflexvorgänge (Milchsekretion, Menstruation, die Tätigkeit des Magens, der Blase) lassen sich bei sehr vielen Menschen beeinflussen, und die Suggestibilität von Überzeugungen, Gefühlen und Stimmungen steht erst recht außer Zweifel.«
Im Gegensatz zu dieser Auffassung, welche die Wurzel der Hysterie in Denkvorgängen sucht, sieht Oppenheim die gesteigerte Affekterregbarkeit und den krankhaft gesteigerten Einfluss der Gemütsbewegungen auf die diese in der Norm begleitenden motorischen, sensorischen, vasomotorischen und sekretorischen Funktionen als Entstehungsursache an Lehrbuch. 7. Aufl., Berlin. Karger. S. 1203.und bekennt neuerdings, »dass wir keine präzise, allgemein anerkannte Begriffsbestimmung der Hysterie besitzen« Neurosen infolge von Kriegsverletzungen. Karger, Berlin 1918.. Als Grundphänomen bezeichnet er den abnormen Seelenzustand: die Reizbarkeit, den jähen, unmotivierten Stimmungswechsel, die Charakteranomalien, die Neigung zu explosiven Handlungen, die Steigerung des Einflusses der Affekte auf die körperliche Sphäre in typischen Ausdrucksformen, die Entstehung und Beseitigung körperlicher Symptome auf ideagenem bzw. psychogenem Wege, und die damit in der Regel verknüpfte Unbeständigkeit der Erscheinungen.
»Die einfache Steigerung der emotionellen Erregbarkeit ist kein Charakteristikum der Hysterie, sie kommt auch der Neurose, dem neuropathischen Zustande schlechtweg zu. Erst die Art ihrer Äußerung, (Lach-, Weinkrämpfe u. a.) und das grobe Missverhältnis zwischen Reiz und Wirkung verleiht ihr das hysterische Gepräge. Bei der Hysterie ist der Affekt nur gelegentliche Ursache, während die Grundlage der durch ihn ausgelösten Krankheitserscheinungen in der Persönlichkeit und zwar in erster Linie in der gesteigerten Erregbarkeit und dem gesteigerten Einfluss der Gemütsbewegungen auf die körperliche Sphäre beruht, außerdem in der besonderen Physiognomie dieser Ausdrucksbewegungen, die sie durch die Fixation erhält.« Auch Binswanger erkennt nicht die ausnahmslos psychische Entstehung der Hysterie an. Wenn auch alle hysterischen Krankheitserscheinungen durch psychische Vorgänge beeinflusst werden können, so sei die ausnahmslose Entstehung der Hysterie aus psychischen Vorgängen noch nicht bewiesen und könne auch nicht bewiesen werden.
Zu den beiden Charakteristiken der »hysterischen Veränderung« zählt Strohmayer l. c. noch die pathologisch gesteigerte Gefühlsreaktion.
Hans W. Gruhle l. c. spricht von der »leichten Beeinflussbarkeit durch angenehme Einflüsse und Persönlichkeiten und die von ihnen geweckten Vorstellungen, Trotz und Widerstand gegen alles unsympathisch Erscheinende.«
Reichardt l. c. hält zu einer hysterischen Reaktion für notwendig:
1 eine exogene, durch die Psyche vermittelte äußere Einwirkung,
2 eine bestimmte (angeborene oder erworbene, dauernde oder vorübergehende, vorhandene) Hirndisposition (Labilität des Regulationssystems Gaupp),
3 einen inhaltlich bestimmt gearteten Zweck (oft anscheinend unbewußt), eine Abwehr oder einen Wunsch, eine Willensrichtung, z. B. einen Willen zur Krankheit, »einen Defekt des Gesundheitsgewissens« ( Kohnstamm), eine besondere Art des Selbstschutzes.
Die »Zwischenreaktion« als Vorbedingung für die Entstehung einer Hysterie wird auch von Bonhoeffer unterstrichen, der die Willensrichtung der Krankheit für das charakteristischste Moment ansieht, – wird auch von Bleuler unterstrichen, der von einer psychischen Reaktionsweise auf unangenehme Situationen spricht, die nicht ertragen werden wollen, und vor denen man in die Krankheit flüchtet oder in dieselbe verdrängt wird – wird auch von Cimbal unterstrichen, der dem selbst besten Menschen Gedanken und Wünsche zutraut, »die er selbst nicht auszusprechen wagt, die er für unrecht hält, deren er sich schämt Die Zweck- und Abwehrneurosen als sozial-psychologische Entwicklungsform der Nervosität. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych..« Nach Forster besteht die hysterische Reaktion im Wesentlichen darin, »dass das betreffende Individuum körperliche Erscheinungen produziert (resp. nicht unterdrückt), die von der Umgebung als körperliche Leiden resp. Krankheit aufgefasst werden sollen und ihm dadurch erwünschte Vorteile oder, was dasselbe ist, das Fortbleiben unerwünschter Geschehnisse erwirken sollen«. Nicht Hysterie oder Simulation ist die Frage, sondern: »Wie steht der Betreffende zu seiner Zweckreaktion? Ist er sich bewusst, dass er damit etwas beabsichtigt, und wie klar ist dieses Bewusstsein?« Hysterische Reaktionen und Simulationen. Monatsschr. f. Psychiatrie.
Jedenfalls müssen wir nach geltender Lehre eine dreifache psychische Wurzel hysterischer Krankheitserscheinungen als möglich annehmen:
1 Die Vorstellungs- oder noogene oder ideagene Theorie, welche die Entstehungsbedingungen in den Denkvorgängen sucht.
2 Die thymogene- oder Affekttheorie.
3 Die epithymogene oder Begehrungstheorie. Levy-Suhl, »Die dreifache psychische Wurzel der hyst. Krankheitserscheinungen. Dtsch. med. Wochenschr. 1019. Nr. 5.
Wie aber eine Vorstellung oder ein Affekt oder ein Begehren körperliche Krankheitssymptome zuwege bringt, wie diese gerade bei der hysterischen Eigenart entstehen und trotz scheinbarer und wirklicher Festigkeit und Hartnäckigkeit beeinflussbar sind, bleibt rätselhaft, und alle theoretischen Deutungsversuche können uns die Umsetzungsvorgänge wohl anschaulicher, fassbarer machen, doch nimmermehr erklären. Was kann uns die »psycho-physische Bereitschaft« sagen? Eher könnte die Annahme einer Ladungsbereitschaft in den Hirnrindenzellen uns wenigstens eine Feinempfindlichkeit bedeuten, die nach Art feinster technischer Apparate auf sinnlich kaum noch fassbare Reize anspricht. Wenn der Empfänger einer Radiostation Wellen registriert, die aus Weltentfernungen