Das Geschlechtsleben der Hysterischen - eine medizinische, soziologische und forensische Studie. Siegfried Placzek
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Neuerdings sind nun die anscheinend festesten Grundpfeiler der Hysterielehre – Heredität und Disposition – ins Wanken geraten, zum mindesten in ihrer Bedeutung erschüttert worden, und zwar bewirkten das die Kriegserfahrungen. Allen Frontkämpfern, Freund und Feind, waren gleiche Kriegsstrapazen beschieden. Schwerste seelische und körperliche Erschöpfung, überkräftige, oft genug angstvolle seelische Höchstspannung, seelische Erschütterungen von ungeheuerlichen Graden trafen sie alle, und doch, trotz der angeblich tiefgreifenden Bedeutung solcher Ursachen als Agents provocateur der Hysterie, – trotz der ungefähr gleichgroßen Disposition zur Hysterie bei unseren Soldaten und den Feinden, wenn nicht gar sogar gesteigerter Disposition bei den Franzosen –, brachte der Krieg folgende Überraschungen:
1 Hysterische Erscheinungen schlossen sich – unmittelbar hinter der Front – sehr häufig nicht sofort an den Schreck an.
2 In den Kriegsgefangenenlagern, deutschen wie französischen, fast keine Hysterie, obwohl diese Gefangenen die gleichen, wenn nicht gar erheblichere Schreckwirkungen erfahren hatten.
3 Erst Austauschmöglichkeiten, Rückkehraussichten, ließen Hysterie entstehen.
Mit Recht sagt Neutra Vorlesungen über allgemeine und medizinisch angewandte Lustenergetik (Psychosynthese). Leipzig, F. C. W. Vogel, 1920.in seinem sehr beachtenswerten, gedankenreichen Buche »Seelenmechanik und Hysterie (Psychodystaxie)«, dass solche Tatsachen gegen alle Situationseinwirkung als Entstehungsbedingung der Hysterie misstrauisch machen müssen. Wenn trotz der gleichen äußeren Schädigungen, wie sie der Krieg täglich und tausendfältig mit sich brachte, die Hysterie in der einen Gruppe häufig auftritt, in der anderen Gruppe kaum vorkommt, so scheint es unabweislich, die scheinbar so selbstverständliche Hypothese von Vererbung und Disposition im gewöhnlichen Sinne fallen zu lassen, zum mindesten schärfer zu charakterisieren, »sich nicht mit den einfachen Worten zufrieden zu geben, sondern die spezielle Seelenmechanik psychologisch zu erkennen, die den fruchtbaren Boden für das Unkraut Hysterie ergibt«. l. c. S. 140Mit Recht fragt Neutra: »Wie kommt es nun, dass jene sog. hysterisch Veranlagten unter den Gefangenen, die auch die Schreckwirkungen des Krieges durchgemacht haben und außerdem den schweren Kummer erduldeten, den die Gefangenschaft und die Entfernung von Heimat und Familie mit sich bringt, trotz ihres angeblich schwachen Willens nicht erkrankten? Wie kommt es, dass so mancher unter ihnen endlich an Hysterie erkrankte just gerade zu einem Zeitpunkte, wo sich seine Hoffnung erfüllen soll, wieder die Heimat zu sehen? Sollte die Willensschwäche des hysterisch veranlagten Gefangenen sowohl den Schreck des Augenblickes als auch die langdauernde Gemütsdepression, die durch seine Situation bedingt ist, so gefahrlos für seine Gesundheit ertragen? Musste derartiges nicht zum Nachdenken anregen, ob es denn auch wahr sei, dass die Willensschwäche als Disposition für die Entstehung der Hysterie angesehen werden könne?«
Deshalb sieht Neutra in allen der Hysteriebildung bezichtigten Motiven »nur sozusagen willkommene Anlässe, um mit der hysterischen Erkrankung hervorzutreten, sie, ich möchte sagen, vor dem Beobachter, vor dem Publikum, ja vor sich selbst begreiflich, d. h. genügend kausal bedingt, erscheinen zu lassen. Sie sind stets nur Deckgründe, dazu bestimmt, die wahren Ursachen der Erkrankung zu verdecken«.
Jedes Ereignis, jede Situation, jede Einwirkung von außen macht die aktiven Kräfte, Trieb und Hemmung frei, aus deren Kraftverhältnis die Handlung resultiert, entweder triebhaft oder moralisch. Dagegen schafft die Situation, die zur Hysterie führt, Trieb und Hemmung gleich stark, woraus die Unmöglichkeit einer entsprechenden Reaktion entspringt. In dieser Unfähigkeit der Seele, richtig zu reagieren, sieht Neutra die Wurzel der Hysterie, die also auch nicht angeboren ist.
Soweit der Streit der Geister sich darum dreht, ob die Hysterie ein geschlossenes Krankheitsbild ist und als solches weiter zu existieren ein Recht hat, pflichte ich aus eigenster Erfahrung gern denen bei, die nur eine hysterische Reaktionsweise anerkennen. Es wäre sicherlich auch kein Schaden, wenn die Krankheit »Hysterie« verschwände, denn mit ihr verschwände auch die leichte und leichtfertige Anwendung des Begriffes »hysterisch« auf alles und jedes. Keineswegs kann ich aber die Ansicht teilen, dass die Stigmata hysterica stets autosuggestiv oder durch den Untersucher suggeriert seien. Wohlwill sieht in der hysterischen Anästhesie nichts Passives, sondern etwas Aktives, nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel, nicht etwa auf einer Absperrung des Sinnesreizes vom Bewusstsein beruhend, sondern auf einer aktiven Unterdrückung der von dem kranken Glied ausgehenden Empfindungen. Kollarits l. c. hält sie nicht für unterdrückt, sondern verleugnet. Um anästhetische Zonen überhaupt nicht entstehen zu lassen, fordert er, dass überhaupt nicht darnach geforscht und so untersucht werde, dass sie nicht entstehen können. In jüngster Zeit betont Seelert »Zur psychoanalyt. Traumdeutung«, Dtsch. med. Wochenschr. 1921. Nr. 40.nachdrücklichst, dass die einseitige Sensibilitätsstörung der Hysterischen Produkt der Untersuchung ist, abhängig von der Art, wie untersucht wird.
Vor der Annahme rein suggestiver Erzeugung müsste eigentlich schon die bewährte Untersuchungstechnik des Nervenarztes schützen. Da diese bei sachgemäßer Anwendung jede Suggestion streng fernzuhalten weiß, wäre es ganz unverständlich, wie die Unempfindlichkeitsgrenzen sich gerade so scharf in der Mittellinie abgrenzen sollten, wie der willkürlich gar nicht unterdrückbare Hornhaut- und Rachenreflex verschwinden kann, wie die Farbenperzeption so bestimmte Verschiebungen erfahren kann usw. Ein anderes ist es nur, ob man krankhafte, hysterieverdächtige Erscheinungen durch die Auffindung der Stigmata bestätigt glaubt, ein anderes, ob man ohne anderweite krankhafte hysterische Erscheinungen aus der zufälligen Auffindung einer anästhetischen Zone unbedingt die Hysterie erschließt. Ganz besonders scheint mir für die Tatsächlichkeit der hysterischen Stigmata die Übereinstimmung in ihrer Erscheinungsform zu sprechen, und Pierre Jannet trifft tatsächlich den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt:
»Sollten sich etwa in allen zivilisierten Ländern, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die Hysterischen verabredet haben, dieselben Sachen zu simulieren?« Steyerthal, l. c, S. 82.
Curschmann meint, die Realität, das primäre Vorhandensein der hysterischen Gefühlsstörungen lasse sich dadurch beweisen, dass man vor der Prüfung der Gefühlsqualitäten ganz stillschweigend die sensiblen Reflexe durchprüfe, vor allem auch solche, die auch der ausgepichteste Traumatiker nicht kennt, z. B. den sensiblen Reflex des äußeren Gehörgangs.
In letzter Zeit hat Bröse Centralbl. f. Gynäkol. Sept. 1921.meine Ansicht anerkannt und die Überzeugung ausgesprochen, dass die Stigmata wirklich vorhanden sind, womit er natürlich nicht bestreitet, dass sie gelegentlich suggeriert werden können.
Mit dem Glauben an die Tatsächlichkeit der Stigmata wird natürlich nicht bestritten, dass diese Stigmata suggeriert werden können. Das ist ja durch die Eigenart der hysterischen Psyche nur zu verständlich. Nicht minder leicht erscheint ihre Entstehungsmöglichkeit durch Nachahmung gegeben. Demnach bleibt für mich die hysterische Reaktionsweise auf dem Boden eines disponierten Nervensystems tatsächlich möglich und ihr Vorhandensein durch den Nachweis der Stigmata bewiesen, durch ihr Fehlen nicht widerlegt. Es ist aber nicht angängig, aus zufällig festgestellten Stigmaten ohne weiteres auf eine Hysterie zu schließen, wenn keine sonstigen krankhaften hysterischen Äußerungen solche Vermutung stützen. Bei solcher Auffassung scheint es nicht unangebracht, auch vom Geschlechtsleben der Hysterischen zu sprechen.
Diese Ansicht findet noch eine gewichtige Stütze in neuzeitlichen Bemerkungen Binswangers zu einem Aufsatz von Sydney Alrutz: »Die Bedeutung des hypnotischen Experiments für die Hysterie« Berliner klin. Wochenschr. 1921, Nr. 20.. Es ist mehr als beachtenswert, wenn ein Mann von der Bedeutung Binswangers gegen die herrschende Auffassung Stellung nimmt, wonach »alle hysterischen Krankheitsvorgänge ausschließlich seelischen Ursprungs seien und durch die Macht der Emotion