Gulligold - Serienmorde in Münster. Michael Wächter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gulligold - Serienmorde in Münster - Michael Wächter страница 2
Der Aushilfsschmelzer betrachtete Toms Werk durch das Sichtfenster von Ofen Eins. Die neue, automatische Sauerstoffzufuhr durch das Hinterhof-Rohr funktionierte bestens. Unter den Flammen, orange leuchtend, waberte das zähflüssige Gusseisen und wartete darauf, dass der Ofen angestochen wird. Er kontrollierte noch einmal die Bimsstein-Kanäle und Gussformen am Bodenofen, griff dann zum Stecheisen und stach die Ausgussöffnung an. Leicht spritzend ergoss sich die glühende Metallschmelze über die alten Abflusskanäle in die gereinigten Gullideckel-Gussformen. Über Nacht sollte sie abkühlen und Tom würde sie in der nächsten Schicht aus den Formen hebeln und mit dem Gabelstapler verladen – zur Gullideckellieferung frei Haus.
Dann sah er sich um. Tom und Luigi waren die Letzten, die noch am Ofen gewesen waren. Jetzt, eine halbe Stunde nach Feierabend, war die Gießerei bis auf die Spätschicht leer. Spätschicht, das waren heute Mark und er. Mark, sein Schichtpartner, war jedoch krankgemeldet, und er – wie das in einem Kleinbetrieb so läuft, musste seinen Job dann halt mitmachen. Keiner wusste, dass er am Zechabend zuvor seinem Kollegen Mark ein Mittelchen in das Bier gegeben hatte. Klar, dass Mark nun krank war – der Plan ging auf. Nun konnte er Marks Job mitmachen. In diesem Fall hieß das: Neben Ofen Nummer Eins auch Schmelzofen Zwei anstechen. Er war ungestört. Also schloss er die Ofenöffnung wieder. Dann ging er zum zweiten Schmelzofen hinüber. Dort kontrollierte er den nun beendeten Schmelzprozess durch das Sichtfenster. Anschließend sah er sich in der heißen Gießerei-Halle nochmals um. Er durchquerte sie und lief, als er sich vergewissert hatte, dass die Luft nun rein war, hastig zum Umkleideraum. Er öffnete seinen Spind, nahm eine Plastiktüte aus dem Rucksack, packte Rucksack und Plastiktüte mit links, schloss den Spind wieder mit rechts und eilte mit Plastiktüte und Rucksack zum zweiten Ofen.
Die Eisenzange half ihm, die Ofentür zu entriegeln. Laut quietschend krachte sie auf. Funken flogen. Die Stichflamme schoss die Ofenwand hoch. Seine Hand zitterte. Er bückte sich, griff die neben ihm liegenden Teile und wollte Rucksack und Plastiktüte in hohem Bogen in den Ofen werfen. Die Tüte jedoch entglitt ihm im Wurf aus den Fingern. Ihr Inhalt war noch nicht aufgetaut, und als seine durch die Nähe des Ofens erwärmte Hand die Tüte griff, rutschte sie an der kondensierten Luftfeuchtigkeit ab, während der Rucksack zischend in den Flammen verschwand.
„Verdammter Mist!“, fluchte er, als er die Tüte auf den Boden fallen sah. „So eine gequirlte Hundekacke!“, schob er erregt hinterher. Er fing sich, griff die Tüte und wollte sie erneut in den Ofen schleudern, da riss sie auf und der Kopf der Leiche rollte über den Boden. Er packte ihn an den Haaren und schwang ihn, einem perversen Basketballspiel gleich, in den offenen Schmelzofen – die Plastiktüte mit Hilfe einer Eisenstange hinterher.
Bloß keine Spuren hinterlassen!, schoss es ihm durch den Kopf. Eisenstange und Thermohandschuhe hatten Kontakt mit dem abgetrennten Kopf gehabt – auch sie mussten in den Ofen. Dann kontrollierte er den Hallenboden, dort wo der Kopf seines Opfers auf den Boden aufgeschlagen war. Er sah so genau hin, wie er in der Eile konnte. Haare, Schuppen oder Ähnliches sah er nicht – auch keine Blutstropfen. Gut, dass der noch tiefgekühlt war!, dachte er. Dann nahm er etwas Löschsand, verstreute ihn an der Stelle, wo der Kopf gelegen hatte, fegte ihn wieder auf und entsorgte auch ihn im Ofen. Mit einem Ruck schloss er die Ofentür, griff zum Stechrohr und entließ, nach einer Kontrolle der Ablaufbahnen und Gussformen, die Gusseisenschmelze aus dem Schmelzofen. Restlos hatte sie den noch tiefgekühlten Kopf in sich aufgenommen. Ein puffendes Zischen, als der Schädel im Ofen durch den Dampfdruck aufsiedender Hirnflüssigkeit platzte, eine Wolke von Wasserdampf, eine Stichflamme – und Kopf, Tüte, Stange und Thermohandschuhe waren Geschichte.
Ein großes Gefühl von Genugtuung und Entspannung durchströmte ihn, als er die Metallschmelze in die Gussformen fließen sah. Wie glühend heiße Lava floss sie durch die Formteile, legte sich in die Ritzen und füllte sie aus. Nun hatte er auch das letzte Leichenteil entsorgt – planmäßig und spurenlos wie alle anderen zuvor: Zerkleinert mit Hilfe entsprechender Werkzeuge in der Wanne daheim, verpackt in Plastiktüten und in der Tiefkühltruhe deponiert, Werkzeug und Wanne ausgewaschen mit Wasserstoffperoxid und danach monatelang jeweils die Werkzeug- und Leichenteile portionsweise in und nach der jeweiligen Spätschicht im Schmelzofen vernichtet.
Ein Triumphgefühl mischte sich in seinen Ozean aus entspannter Genugtuung, und ein stolzes Lächeln überzog sein Gesicht. Dich wird niemand wieder finden!, jubelte er innerlich. Perfekt entsorgt!
Er setzte sich die Mineralwasserflasche an den Hals, wie er es in vielen, heißen Schichten getan hatte. Er leerte die noch halbvolle Flasche in einem Zug, und es kam ihm dieses Mal vor, als sei es das köstlichste, kühlste, würzigste Mineralwasser, dass er je getrunken hatte. Dieses Miststück hatte ihm so viel weggenommen, sein Leben gleich zwei Mal zerstört – jetzt war es dafür endgültig komplett vernichtet worden, verglüht in der höllischen Hitze des Klebholz-Schmelzofens. Und das frisch geschmolzene Gusseisen ruhte in den Gussformen des Hallenbodens, erkaltend in der Form stadtüblicher Gullideckel der Gießerei. Alles war gut, alles wieder im Lot.
Tief befriedigt fuhr er die Heizleistung der beiden Öfen hinunter, beendete seine Schicht, legte eine Ersatz-Eisenstange für die nächste Frühschicht bereit und den verkohlten Rest eines Thermohandschuhs neben eine der Gussformen. Es würde für die Anderen aussehen, als habe er wieder einmal einen Thermohandschuh liegen lassen an der Gussform, den die Metallschmelze dann angesengt und fast verschluckt hat.
Er zog sich um, bestieg sein Fahrrad und verließ die Gießerei in Richtung Kanal. Genüsslich langsam fuhr er den Betriebsweg am Kanal entlang. Die Sonne verschwand hinter den Getreidesilos der Tierfuttermittel-Fabrik an der Umgehungsstraßenbrücke, und einige hundert Meter weiter schienen die Pflasterstein-Stapel der benachbarten Betonwerke sich vor dem dunklen, nur noch schwach orangenen Himmel Gute Nacht sagen zu wollen.
Er wollte es perfekt machen, das Verwischen der Spuren. Der Schmelzofen war sein Hilfsmittel, sein Freund gewesen, denn er hatte ihn jahrelang kennengelernt, seine Tücken und Macken, seine Vorzüge und Stärken. Und seinen Job würde er nun – nach einigen Wochen vorgetäuschter Krankheit – kündigen, kurz eine weitere, neue Wohnung beziehen (vielleicht waren ja doch noch Reste in der Wanne – ein Umzug konnte da nur vorteilhaft sein), und dann würde er seine Zelte in Münster endgültig abbrechen und ein neues Leben anfangen, mit einer neuen Beschäftigung, in einem neuen Umfeld. In Münster hielt ihn nichts mehr, nichts Verdächtiges konnte mehr auf ihn hinweisen.
„Garnichts?“, fragte er sich plötzlich erschrocken, als er, den Kanal entlangradelnd, am Feuerwehr-Ausbildungszentrum entlangkam. Da fiel ihm plötzlich siedend heiß sein Fahrrad ein, so, als hätte man ihm kochendes Wasser über die Schultern gegossen. Hatte die Tüte nicht, bevor er sie in den Rucksack gestopft hatte, kurz am Lenkrad gehangen? Konnte es daher nicht auch noch Leichenspuren am Lenker geben?
„Verdammter Mist!“, fluchte er erneut, und Gequirlte Hundekacke – die Leeze!, schoss ihm durchs Gehirn, zusammen mit dem Entschluss, sicherheitshalber auch das Fahrrad zu entsorgen. Er hielt an, packte das Rad an der Stange unter dem Sattel und wollte es in hohem Bogen in den Kanal werfen, als er in der Drehbewegung plötzlich mit einem älteren Herrn zusammenstieß, der mit einer oder auch seiner Frau dort spazieren ging.
„Hallo!“, protestierte der Mann, „passen sie doch gefälligst auf!“
Das Paar war stehen geblieben und sah ihn entrüstet an.