Der Mord bleibt ungesühnt. Walter Brendel
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Gleichzeitig gibt es bei ihr nicht die Spur jener Massenverachtung, die heute oft gerade in der radikalen Linken gepflegt wird. Dabei hätte Rosa Luxemburg ausreichend Anlass für eine vergleichbare Haltung gehabt - der massenhafte Gang des europäischen Proletariats in den jeweils nationalen Krieg gegen die eigenen Klassenbrüder und -schwestern, den dieses 1914 - 1918 praktizierte, war ernüchternd
und hätte Anlass sein können, Massenaktionen mit fortschrittlichem Inhalt ganz abzuschreiben.
Doch gerade sie war es, die nach der schrecklichen Erfahrung mit 1914 weiter auf die Massen setzte, die jede kleine Regung wie Arbeitsverweigerung in der Rüstungsproduktion, Kriegsdienstverweigerung, Friedensdemonstrationen usw. als
Hoffnungsschimmer aufnahm und im November 1918 recht behalten sollte, als massenhaft dasselbe Proletariat dem Kriegswahn ein Ende setzte. Im Dezember 1918, auf der Gründungsversammlung der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), appellierte Luxemburg:
„Wir müssen die Massen erst darin schulen, dass der Arbeiter- und Soldatenrat der Hebel der Staatsmaschine nach allen Richtungen hin sein soll, dass er jede Gewalt übernehmen muss und sie alle in dasselbe Fahrwasser der sozialistischen Umwälzung
leiten muss. Davon sind auch noch diejenigen Arbeitermassen, die schon in den Arbeiter- und Soldatenräten organisiert sind, meilenweit entfernt (...) Aber das ist nicht ein Mangel, sondern das ist gerade das Normale. Die Klasse muss, indem sie Macht ausübt, lernen, Macht auszuüben. Es gibt kein anderes Mittel, es ihr beizubringen.
Wir sind nämlich zum Glück über die Zeiten hinaus, wo es hieß, das Proletariat sozialistisch schulen, das heißt: ihnen Vorträge halten und Flugblätter und Broschüren verbreiten. Nein, die sozialistische Proletarierschule braucht das alles nicht. Sie werden geschult, indem sie zur Tat greifen.“
Massenaktion war in Luxemburgs Denken strategische Voraussetzung für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft. Worman Geras formulierte dazu in seinem Buch über Luxemburg: „Die Schaffung eines revolutionären Bewusstseins in den breitesten Massen hat zur unabdingbaren Voraussetzung, dass diese Massen an
Kämpfen von außerordentlicher Reichweite und Kampfbereitschaft teilnehmen. Die
Massen lernen in der Aktion.“ Zu einem früheren Zeitpunkt argumentierte Luxemburg:
„In der Revolution, wo die Masse selbst auf dem politischen Schauplatz erscheint, wird das Klassenbewusstsein ein praktisches, aktives. Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene >Schulung< gegeben, welche dem deutschen Proletariats 30 Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können.“
Auch der erstgenannte Pol in dieser Frontstellung ist schwerlich mit Rosa Luxemburg Theorie und Praxis vereinbar. Richtig ist, dass sich Luxemburg gegen einen Kadavergehorsam in der revolutionären Partei wandte. Gleichzeitig betonte sie jedoch
die Notwendigkeit der Organisierung, der Organisation bzw. Partei, ja, der Führung der Massen durch eine lebendige Partei, die zwischen Massenaktion und politisch-strategischer Orientierung gewissermaßen die „Vermittlung“ darstellen würde.
Just in diesem Sinne schrieb sie: „Die Äußerungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich nämlich nicht künstlich auf die Dauer auf einer und derselben Höhe erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion
muss vorwärtskommen. Und gebricht es der leitenden Partei in den gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich zusammen.“
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs sah Luxemburg dieses dialektische Verhältnis
noch enger gefasst. 1918 erkannte sie die wesentliche Schwierigkeit im Kampf für eine sozialistische Lösung „im Proletariat selbst, in seiner Unreife, vielmehr in der Unreife seiner Führer, der sozialistischen Parteien.“
Rosa Luxemburgs Positionen müssen im Zusammenhang mit ihrer - von Friedrich Engels übernommenen - Analyse gesehen werden, es gehe um „Sozialismus oder Barbarei“. Sie betonte unermüdlich und in Widerspruch zur sozialdemokratischen Führung, dass es kein Hinüberwachsen in einen Sozialismus geben würde, dass es
der bewussten, revolutionären Massenaktion bedürfe, um die Barbarei zu vermeiden
und den Sozialismus zu ermöglichen und dass die Hauptverantwortung der Sozialdemokratie darin liege, hier treibendes Moment zu sein, in Massenaktionen mit der revolutionären, emanzipativen Zielsetzung einzugreifen.
Und heute? Gibt es Nutzanwendungen für unser heutiges Engagement? Wie ist der
scheinbare Widerspruch zwischen „Massenspontanität“ und „Parteidisziplin“ zu debattieren bzw. aufzulösen? Dazu in der gebotenen Kürze eine Antwort auf drei Ebenen:
Die Losung „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute mehr denn je gültig, wobei wir für jede Debatte über die Begrifflichkeit „sozialistisch“ offen sein sollten. Mehr noch als vor und im Ersten Weltkrieg weist die Logik des Kapitals, der Konkurrenz und des Marktes in die Richtung Barbarei. Angesichts der sich weiter drehenden Rüstungsspirale gilt nach wie vor: „Nach Rüstung kommt Krieg“. Der Golfkrieg 1990/91 war nur ein Vorspiel, und die Bundeswehr vor Ort auf dem Balkan ist nur die Generalprobe.
Was Rosa Luxemburg kaum wissen konnte, ist die Komplettierung der Gefahr einer Barbarei durch die selbstmörderische Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte
und die Gefahren ökologischer Katastrophen. Angesichts von Massenelend im Süden, neuen Kriegen in der Dritten Welt, neuer Sklaverei, Sex-Tourismus, Müll-Tourismus, Gentechnik usw. ist es mehr als gerechtfertigt, Rosa Luxemburgs Worte, gesprochen inmitten des Ersten Weltkrieges, auch für heute als zutreffend oder prophetisch zu bezeichnen: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, voll Schmutz triefend - so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit - so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“
Natürlich sind heute Massenaktionen geringer entwickelt als Anfang des 20. Jahrhunderts.
Gleichzeitig sind wir geneigt, solche weit weniger wahrzunehmen und zu analysieren. Sowohl bei den Streiks gegen die Reduzierung der Lohnfortzahlung in Deutschland als auch bei den Kämpfen gegen Entlassungen und die Verschlechterung der Sozialsysteme in Frankreich handelte es sich um Massenaktionen, bei denen auch Teilerfolge erzielt wurden.
Interessant und wichtig ist dabei auch, dass diejenigen, die in diese Massenkämpfe eintraten, sich - wie Luxemburg für ihre Zeit analysierte - während dieser Kämpfe radikalisierten, ihr Bewusstsein erweiterten. Eine Debatte um „Parteidisziplin“ oder um „revolutionäre Organisierung“ stellt sich heute kaum. Die LINKE ist keinesfalls eine revolutionäre Partei im Sinne Luxemburgs. Sehr zum Bedauern von deren ehemaligen Fraktionsführerin im Bundestag, Sarah Wagenknecht. Bliebe ganz allgemein die Organisationsfrage.
Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich diese Frage nicht sehe. Die diversen linken, radikalen organisierenden Ansätze befinden sich eher auf dem Rückzug.
Wir müssen derzeit froh sein, wenn das Potential, das auf „revolvere“, auf ein umwälzen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse setzt und das es