Blinde Liebe. Уилки Коллинз
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»›Ich bin die Frau eines Arztes,‹ sagte sie, ›und ich mache das nur nach, was ich meinen Mann habe thun sehen, wenn seine Hilfe auf der See bei so schlimmem Wetter wie heute in Anspruch genommen wurde.‹
»Bei ihrem überhaupt sehr schwachen Gesundheitszustand war Rhoda viel zu arg angegriffen, als daß sie hätte mit der Eisenbahn weiterfahren können, als wir in Holyhead ankamen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, und ich habe sie, wie Sie wissen, sehr gern. Wenn ich auf mich allein angewiesen gewesen wäre, dann hätte ich jedenfalls zu einem Arzt geschickt. Was glauben Sie aber, was mir die gute Mrs. Vimpany anriet, zu thun? ›Ihr Kammermädchen ist nur schwach,‹ sagte sie. ›Gönnen Sie ihr Ruhe und geben Sie ihr Wein zu trinken, dann wird sie sich bald wieder erholen und im stande sein, mit dem nächsten gewöhnlichen Zug weiter zu fahren. Sie brauchen keine Angst um sie zu haben; ich werde bei Ihnen bleiben.‹ Und sie blieb auch wirklich. Gibt es denn noch viele solche Menschen, Hugh, die so uneigennützig anderen, ihnen ganz Fremden so viel Gutes erweisen, wie meine zufällige Reisebekanntschaft vom Dampfboot?«
»Ich fürchte, deren sind nur verschwindend wenige.«
Mountjoy gab diese Antwort nicht ohne eine kleine Verlegenheit, denn er fühlte, daß in ihm ein gelinder Zweifel an der uneigennützigen Liebenswürdigkeit der Mrs. Vimpany aufstieg, und das war eines echten Mannes unwürdig.
Iris fuhr in ihrer Erzählung fort:
»Rhoda hatte sich hinreichend erholt, um mit dem nächsten Zuge weiterreisen zu können, und es schien kein Grund vorhanden, noch irgendwie ängstlich zu sein. Aber nach einiger Zeit zeigte sich doch, daß die Anstrengung der Reise für sie zu groß gewesen war. Das arme Mädchen wurde immer blasser und bekam schließlich eine Ohnmacht. Mrs. Vimpany brachte sie wieder zum Leben zurück, aber, wie sich bald herausstellte, nur für kurze Zeit. Sie bekam einen neuen Ohnmachtsanfall, und meine Reisegefährtin fing jetzt auch an, ängstlich zu werden. Es kostete einige Schwierigkeit, Rhoda wieder zum Bewußtsein zu bringen. Aus Furcht vor einem neuen Anfall beschloß ich, an der nächsten Station den Zug zu verlassen und dort zu bleiben. Der Ort sah aber so ärmlich aus, als wir ihn erreichten, daß ich Bedenken trug, mein Vorhaben auszuführen. Mrs. Vimpany überredete mich, mit ihr weiter zu fahren. Die nächste Station, sagte sie, wäre ihr Ziel. ›Bleiben Sie dort,‹ bemerkte sie, ›und lassen Sie meinen Gatten nach dem Mädchen sehen. Ich sollte vielleicht nicht davon sprechen, aber Sie werden schwerlich außerhalb Londons einen besseren Arzt finden.‹ Ich nahm den Vorschlag der liebenswürdigen Dame dankbar an. Was hätte ich auch sonst anderes machen sollen?«
»Was würden Sie denn gethan haben,« fragte Mountjoy, »wenn Rhoda kräftig genug gewesen wäre, um die Reise noch weiter fortsetzen zu können?«
»Ich würde dann nach London gegangen sein und einstweilen meine Wohnung in einem Hotel genommen haben – Sie waren ja in London, wie ich annehmen konnte, und mein Vater würde sich wohl mit der Zeit haben erweichen lassen. Wenn es so gewesen wäre, dann würde ich erst einen deutlichen Begriff von meiner verlassenen Lage bekommen haben. Daß ich aber das Glück hatte, mit so liebenswürdigen Leuten wie Doktor Vimpany und seiner Gattin zusammenzutreffen, war es für ein so verlassenes, freundloses Wesen, wie ich bin, eine wahre Wohlthat – gar nicht zu reden von dem großen Vorteil, den diese Liebenswürdigkeit Rhoda bot, welche von Tag zu Tag sich zusehends erholte. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Mrs. Vimpany sehen könnten; vielleicht ist sie zu Hause. Sie ist ein wenig förmlich und altmodisch in ihren Manieren – aber ich glaube bestimmt, daß sie Ihnen gefallen würde. O, sehen Sie sich nur einmal hier im Zimmer um! Sie sind arm, fürchterlich arm für Leute in ihrer Stellung, meine würdigen, braven Freunde. Ich habe die größte Schwierigkeit gehabt, bis sie mir nur gestatteten, meinen Teil zu den Haushaltungskosten beizusteuern. Sie willigten erst dann ein, als ich drohte, ich würde in den Gasthof gehen. Sie sehen aber so ernst aus, Hugh. Ist es denn möglich, daß Sie irgend etwas Unrechtes darin finden, daß ich mich hier in diesem Hause aufhalte?«
Die Thüre des Empfangszimmers wurde leise geöffnet, gerade in dem Moment, als Iris diese Frage stellte. Eine Dame erschien auf der Schwelle. Als sie den Fremden erblickte, wendete sie sich an Iris.
»Ich wußte nicht, meine liebe Miß Henley, daß Sie Besuch hatten. Entschuldigen Sie daher mein Eintreten.«
Die Stimme war tief; die Aussprache war deutlich; ihr Lächeln zeigte eine bescheidene Würde, welche ihr ein gewisses Selbstbewußtsein verlieh. Iris hielt sie zurück, als sie eben im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.
»Ich habe soeben den Wunsch ausgesprochen, daß Sie zu Hause sein möchten,« sagte Miß Henley. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen alten Freund, Mr. Mountjoy, vorstelle. Hugh, das ist die Dame, welche so außerordentlich liebenswürdig gegen mich gewesen ist – Mrs. Vimpany.«
Hugh beabsichtigte, unter diesen Umständen eine Verbeugung zu machen und der Dame des Hauses die Hand zu geben. Mrs. Vimpany begegnete diesem freundlichen Entgegenkommen mit einer außerordentlichen Zierlichkeit in ihren Bewegungen, wie sie nicht oft in unseren Tagen, die so wenig auf Zeremonien geben, gesehen wird. Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren, aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen, heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen Zustand zu erkennen. Ein dünner Spitzenkragen umschloß ihren Hals und fiel in dürftigen Falten über ihre Schultern herab.
Sie ließ sich in einen Stuhl an Iris' Seite nieder.
»Es gereichte mir zum großen Vergnügen, Mr. Mountjoy, meine geringfügigen Dienste Miß Henley anbieten zu können,« sagte sie; »ich vermag gar nicht auszudrücken, wie glücklich mich ihre Gegenwart in unserem kleinen Hause macht.«
Das Kompliment war an Iris gerichtet in einem äußerst liebenswürdigen Ton und mit einem Lächeln in dem Gesicht, so freundlich sie es hervorzubringen vermochte. So wunderlich und gekünstelt, wie es unzweifelhaft war, machte das Benehmen der Mrs. Vimpany nichtsdestoweniger einen angenehmen Eindruck. Mountjoy war zuerst geneigt gewesen, ihr mit Mißtrauen zu begegnen, fand aber während des Gespräches, daß sie es verstanden hatte, eine günstige Aenderung seiner Meinung betreffs ihrer Person herbeizuführen. Sie interessirte ihn jetzt so, daß er begann, neugierig zu werden, wie ihr Leben wohl gewesen sei, als sie noch jung und hübsch war. Er betrachtete wieder die Bilder der Schauspielerinnen an den Wänden und die Bücher auf dem Bücherbrett, und dann warf er, während sie mit Iris sprach, verstohlen einen listigen Blick auf die Dame des Hauses. War es denn möglich, daß diese merkwürdige Frau einstmals eine Schauspielerin gewesen war? Er versuchte, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, indem er eine liebenswürdige Bemerkung über die Bilder machte.
»Meine Erinnerungen als Theaterbesucher reichen nicht weit zurück,« begann er, »aber Ihre schönen Bilder erregen in mir ein historisches Interesse.«
Mrs. Vimpany machte eine graziöse Verbeugung, sagte aber nichts. Hugh Mountjoy versuchte daher zum zweitenmale sein Glück.
»Man sieht nicht oft die berühmten Schauspielerinnen