Blinde Liebe. Уилки Коллинз
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Alle gesellschaftlichen Formen – mit Einschluß der eigentümlichen englischen Gewohnheit, daß die Damen nach dem Essen vom Tisch weggehen und die Herren sich selbst überlassen – fanden an Mrs. Vimpany eine begeisterte und ergebene Anhängerin. Sie stand auf, als wenn sie bei einem großen und feierlichen Gastmahl den Vorsitz geführt hätte, und geleitete Miß Henley in der liebenswürdigsten Weise in das Empfangszimmer. Iris blickte nach Hugh hin, aber sein Geist war noch mit anderen Dingen beschäftigt, denn sein Gesicht hatte noch nicht den nachdenklichen Ausdruck verloren.
In der aufgeräumtesten Laune schob Mr. Vimpany jetzt die Flasche seinem Gast über den Tisch zu und hielt ihm eine Hand voll dicker schwarzer Cigarren hin.
»Hier ist etwas, was zu dem Traubensaft paßt!« rief er. »Das ist die beste Cigarre in ganz England!«
Er hatte gerade sein Glas von neuem gefüllt und wollte sich eben seine Cigarre anzünden, als das Dienstmädchen hereintrat mit einem Zettel in der Hand. Manche Leute machen ihrem Unwillen in dieser, andere in jener Weise Luft. Bei dem Doktor geschah es durch Schelten.
»Nun soll mir einmal einer nicht von Sklaverei reden! Suchen Sie einmal einen Sklaven in ganz Afrika, wie ein Mann meines Berufes einer ist! Für uns gibt es keine Stunde, weder bei Tag noch bei Nacht, die wir zu unserer freien Verfügung haben. Da, hier ist eine so dumme, alte Frau, die an Asthma leidet; sie hat wieder einmal einen Krampfanfall gehabt, und deshalb muß ich jetzt meinen Mittagstisch verlassen und meinen Freund, gerade wo wir erst jetzt recht vergnügt sein wollen. Ich hätte beinahe Lust, nicht hinzugehen.«
Der unaufmerksame Gast rehabilitirte sich plötzlich in den Augen seines Wirtes. Hugh machte lebhafte Einwendungen gegen die zuletzt laut gewordene Absicht Mr. Vimpanys, so daß es den Anschein hatte, als ob ihn der Fall interessire. Der Doktor faßte es als ein Kompliment auf, als Mountjoy sagte:
»Aber Mr. Vimpany, wo bleibt dann die Menschenfreundlichkeit?«
»Sie meinen wohl das Geld, Mr. Mountjoy,« antwortete der witzige Doktor. »Die alte Dame ist die Mutter unseres Bürgermeisters, Sir. Sie scheinen mir keinen Spaß zu verstehen; ich werde natürlich hingehen, um das Honorar in meine Tasche stecken zu können.«
Sobald er die Thür geschlossen hatte, atmete Hugh Mountjoy wie erlöst auf und brach in den aufrichtigen Freudenruf aus: »Gott sei Dank, daß er fort ist!« Dann wanderte er in dem Zimmer auf und ab und ließ ungestört seinen Gedanken freien Lauf.
Der Gegenstand seines Nachdenkens war der Einfluß der geistigen Getränke, welcher die verborgenen Schwächen und Fehler in dem Charakter eines Mannes verrät, indem er sie genau so zu Tage treten läßt, wie sie in Wirklichkeit sind, vollkommen aller Bande ledig, welche der nüchterne Mensch sich auferlegt. Daß hier die schwache Seite Mr. Vimpanys lag, war außer Zweifel. Wenn man so schlau war, ihn trinken zu lassen, so viel er wollte, so konnte man ihn ohne viel Mühe der Fähigkeit, seine Gedanken zu verbergen, berauben und die Natur der Verbindung, welche zwischen Lord Harry und Mrs. Vimpany bestand, mußte auf diese Art und Weise früher oder später klar werden – vielleicht in einem Gespräch nach dem Essen bei geschicktem Verhalten. Die Unfähigkeit des Doktors, einen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Wein zu machen, kam dabei ebenso gelegen wie Mountjoys Kenntnis von der vortrefflichen Qualität des französischen Rotweins der Gastwirtin. Er hatte sofort, als er ihn gekostet, erkannt, daß er aus einem der besten Weinberge von Bordeaux stammte und seine wahre Güte und Stärke dem gewöhnlichen und unerfahrenen Geschmack unter jener Blume verbarg, die dem echten Bordeaux eigen ist. Man brauchte ja nur Mr. Vimpany aufzufordern, – etwa durch eine Einladung zum Mittagessen in den Gasthof – seine Meinung als ein Mann, dessen Urteile in Weinsachen vollständiges Vertrauen geschenkt werden dürfte, über diese Sorte abzugeben; man brauchte ihn nur auf diese Art und Weise entdecken zu lassen, daß Hugh reich genug war, um sich einen solchen Wein kaufen zu können, und die Erreichung des gesteckten Zieles war einfach nur eine Frage der Zeit. Es war sicherlich die beste Gelegenheit dazu vorhanden. Mountjoy beschloß, den Versuch zu wagen, und that es auch.
Mr. Vimpany kehrte von seinem Krankenbesuche zurück, vollständig mit sich selbst zufrieden.
»Die Mutter des Bürgermeisters hat guten Grund, Ihnen dankbar zu sein,« sagte er; »wenn Sie mich nicht zur Eile angetrieben hätten, so würde die elende alte Frau daraufgegangen sein. Ein regelrechter Kampf war es zwischen dem Tod und dem Arzt – beim Jupiter! – und der Doktor hat gewonnen. Nun lassen Sie mich aber auch meine Belohnung haben, und reichen Sie mir die Flasche.«
Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie.
»Ja, was ist denn mit Ihnen?« fragte er. »Ich hatte sicher darauf gerechnet, daß ich den Kellerschlüssel brauchen würde, wenn ich nach Hause käme, denn ich konnte doch nicht voraussetzen, daß Sie keinen Tropfen trinken würden. Was soll denn das heißen?«
»Das soll heißen, daß ich nicht wert bin, Ihren Sherry zu trinken,« antwortete Mountjoy. »Die spanischen Weine sind viel zu schwer für meine schlechte Verdauung.«
Mr. Vimpany brach wiederum in ein schallendes Gelächter aus.
»Aha, ich verstehe, Sie vermissen gewiß den Weinessig der Wirtin.«
»Ja, das thue ich wirklich. Der von Ihnen bespöttelte Weinessig der Wirtin ist nämlich der beste Château Margaux, der mir jemals vorgekommen ist, und wird hier an eine Gesellschaft verschwendet, die gar nicht wert ist, solchen Wein zu trinken.«
Die angeborene Unverschämtheit des Doktors zeigte sich gleich wieder.
»Sie haben natürlich diesen wunderbaren Wein gekauft,« sagte er ironisch.
»Ja,« antwortete Vimpany, »das habe ich gethan.«
Zum erstenmal in seinem Leben verließ Mr. Vimpany seine gewöhnliche Redegewandtheit. Er sah seinen Gast mit stummem Erstaunen an. Diese Gelegenheit nützte Mountjoy aus. Mr. Vimpany nahm eine Einladung zum Mittagessen für den nächsten Tag im Gasthaus mit der freudigsten Bereitwilligkeit an, aber er stellte eine Bedingung.
»Im Fall, daß ich mit dem, was Sie über Ihren wunderbaren Château – ich weiß nicht, wie Sie ihn nennen – behaupten, nicht übereinstimme,« sagte er, »werden Sie es nicht übel nehmen, wenn ich nach Hause schicke und eine Flasche von meinem alten Sherry holen lasse.«
Das nächste Ereignis dieses Tages war ein Besuch des interessantesten Bauwerks, welches sich in der Stadt aus früheren Zeiten erhalten hatte. In Abwesenheit des