Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith

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strukturierte Rahmenbedingungen entstehen, die der Komplexität angemessen sind.

      Die etablierte Medizin

      Band 1 ME/CFS erkennen und verstehen erschien 2018 und widmete sich dem „Chronischen Erschöpfungs-Syndrom“ ME/CFS. Nach der Publikation des Bandes kam es zu zahlreichen persönlichen Gesprächen. Betroffene bestätigten wiederholt das in dem Buch beschriebene nahezu komplette Versagen in Diagnostik und Therapie sowie in der Sozialversorgung. Das führt zu Chronifizierungen, zu persönlichem und familiärem Leid und zu entwürdigenden, oft jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Versorgungsleistungen.

Es gibt, wie wir sehen werden, weltweit Millionen Betroffene, jahrelange Odysseen, „doctor-hopping“, Fehlbehandlungen und (teilweise vermeidbare) Chronifizierungen. Diese Krankheits-Kategorie wird dennoch bislang weitgehend ignoriert. Die etablierte Medizin (die in den Hochschulen vermittelt wird) scheint zu kapitulieren angesichts der Komplexität multisystemischer Erkrankungen und steht ihnen konzeptlos gegenüber.Keine Eingangstür in das etablierte Gesundheitssystem ist die richtige für multisystemisch Erkrankte.

      Die übliche Standard-Diagnostik beruht auf Paradigmen, denen historisch die Infektions-Erkrankungen zugrunde liegen und sie leistet Hervorragendes bei akuten Krankheitsfällen. Sie klärt folglich die Fragen, für die diese Konzepte ausgelegt sind. Die Wirkweisen bei Erworbenen Multisystem-Erkrankungen sind jedoch aufgrund veränderter Lebens- und Umweltbedingungen vielfältiger, als es uns geradlinige Ursache-Wirkungs-Denkmodelle glauben machen wollen.

Für eine angemessene Versorgung ist eine eingehende Analyse der Komplexität selbst und deren Auswirkung auf die klinische Praxis unumgänglich.

      Es gibt derzeit keine umfassende Evaluierung der Bedürfnisse von Patienten mit komplexen/multisystemischen, bzw. -organischen Erkrankungen. Hier ist ein erweiterter diagnostischer Ansatz notwendig, der den Einsatz präziser Spitzentechnologie und geschulte, interdisziplinär arbeitende Behandler erfordert.

      Systemisch – nicht linear

      Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen sind system- und organübergreifende „Ganzkörper“-Erkrankungen. Bislang wird die Medizin organzentriert verstanden, der Patient wird nach Herz, Nieren oder Gehirn von spezialisierten Behandlern diagnostiziert und behandelt. Der Kieler System-Mediziner Prof. Stefan Schreiber formuliert treffend:

      „Die Spezialisierung der Medizin entspricht nicht der biologischen Wirklichkeit.“ E/6 Schreiber

      Allerorten stößt man auf komplexe Kreisläufe, Wechselwirkungen, multiple Funktions- und Rückkopplungsschleifen, ja, sogar auf regelrechte Teufelskreise. Diese Kausalbeziehungen sind hochgradig verzweigt und komplex.

      Die Systembiologin Prof. Ursula Klingmüller beschrieb schon im Jahr 2015:

      „Noch vor zehn, 15 Jahren dachten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Wie der Lebensprozesse überwiegend linear: Ein Gen veranlasst die Produktion eines Proteins, und das Protein tut etwas in einer bestimmten Weise. Diese Geradlinigkeit findet sich noch heute in fast allen Lehrbüchern, aber sie reicht nicht aus, um die tatsächlichen Lebensereignisse in einer Zelle zu beschreiben, die einem brodelnden Suppentopf mit Zigtausenden von Ingredienzen gleicht, die in vielfältiger Weise miteinander wechselwirken.“ E/7 Klingmüller

      Unser Bahnverkehr ist ein vergleichbar komplexes System. Wir haben alle schon erfahren, was es bedeutet, wenn es z. B. auf einer Strecke zu Sturmschäden kommt. Der Intercity bleibt stehen, die Anschlüsse sind nicht mehr zu halten. Auch der Folgeverkehr kommt zum Erliegen. Fällt gleichzeitig an einer anderen Stelle ein Stellwerk aus, ist das Chaos komplett, weil das Gesamtsystem nur funktionieren kann, wenn die einzelnen Linien funktionieren.

Unterschiedlichste Stressoren können in diesem Sinne vergleichbare „Sturmschäden“ in unserem Gesamt-Organismus verursachen. Diese Entgleisungen bleiben bei den üblichen Routine-Untersuchungen nahezu vollständig verborgen.

      Systemmedizin

      Im Februar 2015 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Zusammenarbeit zur Förderung transnationaler Forschungsprojekte in der Systemmedizin eine Bekanntmachung, die der Etablierung der Systemmedizin in Europa dient und eine klare Sprache spricht:

      „Der systemmedizinische Ansatz, der Krankheitsprozesse als komplexes Zusammenspiel verschiedener biologischer Netzwerke auf verschiedenen Ebenen untersucht (Zell-, Gewebe-, Organ- und Organismusebene), unterscheidet sich grundlegend von der gängigen Praxis der klassischen und Symptom-orientierten Medizin. Diese greift häufig erst dann, wenn eine Erkrankung bereits ausgebrochen ist. In der Vergangenheit haben Ärztinnen und Ärzte stets klinische Beobachtungen, empirisches Wissen und Informationen aus medizinischen Tests zusammengeführt, um Krankheiten zu diagnostizieren und Patienten erfolgreich zu behandeln. Dieses Konzept hat sich im Prinzip bewährt. Das Problem besteht aktuell darin, dass der ärztlichen Fähigkeit zur Sichtung, Auswertung und Annotation von Wissen durch den starken Anstieg verfügbarer relevanter Informationen, die Größe und Komplexität moderner „-omics“-Technologie-Datensätze und der Fülle klinischer Informationen zunehmend Grenzen gesetzt sind. Das etablierte System der Wissensakquise verfügt über kein weiteres Ausbaupotenzial.“ E/8 BMBF

      Das Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF förderte die Systemmedizin seit Ende 2012 mit 200 Millionen Euro. Prof. Johanna Wanka, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung beschrieb 2015 die Zielsetzung des neuen Medizinverständnisses:

      „Die Systemmedizin will die Erkenntnisse und Methoden der Systembiologie auf die Medizin übertragen und für Patientinnen und Patienten nutzbar machen. Das Ziel der Systemmedizin ist es, auf der Grundlage des neuen, interdisziplinär erarbeiteten Wissens neue Präventionsstrategien, Diagnostika und Therapeutika zu entwickeln. Denn ob ein Mensch gesund oder krank ist, hängt von vielen Faktoren ab, seien es genetische Unterschiede, die Veränderung von Molekülen oder Umwelteinflüsse. Die Frage ist, wie all diese Faktoren und Systeme ineinandergreifen und wie sie zu beeinflussen sind.“ E/9 BMBF 2015

      Prof. Stefan Schreiber äußerte sich zu der Bedeutung der Systemmedizin:

      „Persönlich bin ich überzeugt davon, dass wir derzeit mitten in einem Prozess stecken, der vieles umstürzen wird, was für unumstößlich gehalten wurde. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel. Und nur das kann echte Innovationen hervorbringen. Das Revolutionäre, dass in dem neuen Konzept der Systemmedizin steckt und die Chancen, die mit ihm einhergehen, haben noch nicht alle Teilnehmer im Feld verstanden – aber es werden immer mehr.“ E/10 Schreiber

      Derzeit wird die systemmedizinische Herangehensweise fast ausschließlich in der Krebsforschung angewandt und führt dort zu individualisierten Therapien.

Wir werden sehen, dass Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen nur mit Hilfe einer systemmedizinischen, transdisziplinären Herangehensweise verstanden werden können.

      Veränderte Umweltfaktoren

      Mittlerweile befassen wir uns zwangsläufig mit mehreren Krisen, die nicht länger ignoriert werden können. Die scheinbare Robustheit unserer Lebensgrundlagen hat uns blind gemacht für die Folgen unseres unstillbaren Hungers nach Konsum und Annehmlichkeiten. Das Artensterben, die abnehmende Biodiversität, Wald- und Ackerdürren, die Erderwärmung und der Raubbau an der Natur werden bislang nicht in ihrer vollen Dramatik wahrgenommen:

      „Menschliches Handeln gestaltet den ganzen Planeten um. Es dringt bis in die letzten Ecken vor. Schon jetzt sind die Eingriffe des Menschen pro Jahr größer und umfassender als die aller anderen Naturkräfte zusammen. Der Mensch ist die größte Naturkraft. Gleichzeitig schreibt er sich durch sein Tun in die geologische Zeit ein. Die Eingriffe verändern den Planeten nicht für Generationen,

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