Ben Hur. Lewis Wallace
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Als der Reitertrupp sich dem Dorfe näherte, erscholl ein Trompetenstoß, der wie ein Zauber auf die Einwohner wirkte. Sie stürmten in Gruppen aus den Häusern heraus, da jeder den Grund des ungewöhnlichen Besuches zuerst erfahren wollte.
Es war ein Gefangener unter der Obhut der Reiter, der bald die Neugierde der Dorfbewohner erregte. Er ging zu Fuß, mit bloßem Kopf, zerrissenen Kleidern und auf den Rücken gebundenen Händen. An seinen Handgelenken war ein Riemen befestigt, der um den Hals eines Pferdes geschlungen war. Der Reiterzug wirbelte derart Staub auf, daß der Gefangene fast beständig in eine gelbliche Wolke gehüllt war. Völlig kraftlos und wund an den Füßen, taumelte er mehr als er ging. Die Dorfbewohner aber konnten erkennen, daß er sehr jung war.
Am Brunnen angelangt, machte der Zug Halt. Der Hauptmann stieg vom Pferde und die meisten der Reiter folgten seinem Beispiele. Der Gefangene sank wie betäubt in den Staub der Straße. Er bat um keine Labung, augenscheinlich hatte seine Erschöpfung den höchsten Grad erreicht.
Gern hätten die Dorfbewohner, da sie näher gekommen waren und sein jugendliches Alter erkannten, ihm geholfen, allein sie wagten es nicht. Während sie so neugierig und ratlos umherstanden und die Wasserkrüge unter den Soldaten von Mund zu Mund gingen, kam ein Mann die Straße von Sapphoris herab. Eine Frau rief, sobald sie ihn bemerkt hatte: »Seht, da kommt der Zimmermann! Jetzt werden wir wohl etwas erfahren.«
Der Mann, von dem sie sprach, hatte ein sehr ehrwürdiges Aussehen. Dünne weiße Locken quollen unter dem Rande seines Turbans hervor, während ein reicher Bart, der womöglich noch weißer war, auf die Vorderseite seines groben grauen Gewandes herabwallte. Beim Brunnen angelangt, blieb er stehn und trat dann zum Hauptmann.
»Der Friede des Herrn sei mit dir!« sprach er mit unvermindertem Ernst.
»Und derjenige der Götter mit dir!« entgegnete der Hauptmann.
»Euer Gefangener ist noch jung!«
»An Jahren, ja.«
»Darf ich fragen, was er verbrochen hat?«
»Er ist ein Meuchelmörder!«
Erstaunt wiederholten sich die Leute das Wort. Rabbi Josef aber fuhr fort zu fragen: »Ist er ein Sohn Israels?«
»Er ist ein Jude,« antwortete der Römer trocken.
Das bereits im Schwinden begriffene Mitleid der Umstehenden wurde neuerdings rege.
»Ich weiß nichts von euren Stämmen,« sprach der Römer weiter. »Ich kann euch aber von seiner Familie erzählen. Ihr habt vielleicht schon von einem Fürsten Jerusalems namens Hur gehört. Ben Hur nannte man ihn. Er lebte in den Tagen des Herodes.«
»Ich kannte ihn,« sagte Josef.
»Nun, dieser ist sein Sohn!«
Von allen Seiten hörte man bei dieser Nachricht Ausrufe des Staunens und des Mitleides, doch der Hauptmann beeilte sich, dieselben zu unterdrücken.
»Vorgestern hätte er beinahe in den Straßen Jerusalems den edlen Gratus ermordet, indem er ihm vom Dache eines Palastes – jedenfalls seines Vaters – einen Ziegel auf den Kopf warf.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen, währenddessen die Nazarener den Jüngling wie ein wildes Tier anstaunten.
»Hat er ihn getötet?« fragte der Rabbi.
»Nein!« »Er ist verurteilt?«
»Ja, zu den Galeeren auf Lebenszeit.«
»Der Herr steh' ihm bei!« sagte Josef bewegt.
Ein Jüngling, welcher mit Josef gekommen, aber bisher unbemerkt hinter ihm stehn geblieben war, legte nun das Beil, das er trug, neben sich auf die Erde, ging zum großen Stein neben dem Brunnen und ergriff einen der dort stehenden Krüge mit Wasser. Diese Handlung ging so ruhig vor sich, daß der Jüngling bereits über den Gefangenen gebeugt stand und ihm zu trinken gab, ehe seine Wächter es hindern konnten, wenn dieses überhaupt in ihrer Absicht lag.
Die sanft auf seine Schulter gelegte Hand weckte den unglücklichen Judah aus seinem dumpfen Brüten, und aufblickend sah er in ein Antlitz, das er niemals mehr vergaß: in das Antlitz eines Jünglings von ungefähr seinem eigenen Alter, das von goldig-braunen Locken überschattet war, in ein Antlitz voll Sanftmut und Milde, dessen tiefblaue Augen ihn so voll Liebe und heiligem Ernst anblickten, daß ihr Blick unwiderstehlich war. Alle bitteren Gefühle der Rachsucht schwanden in der Brust des Juden, und sein Herz, das durch Tage und Nächte des Leidens wie verhärtet war, schmolz unter dem warmen Blicke des Fremden und ward weich und sanft wie das eines Kindes.
Er setzte seine Lippen an den ihm dargebotenen Krug und trank lang und in vollen Zügen. Kein Wort wurde zwischen beiden gewechselt.
Als Judah getrunken hatte, legte sich die Hand, die bisher auf seiner Schulter gelegen war, auf sein Haupt und ruhte wie segenspendend einen Augenblick auf den staubbedeckten Locken. Dann brachte der fremde Jüngling den Krug wieder zum Brunnen zurück, stellte ihn auf den Stein daneben, nahm wieder das Beil und ging zu Rabbi Josef zurück, indes aller Augen, jene des Hauptmannes sowohl als der Dorfbewohner, auf ihn gerichtet waren. Damit endigte die Szene am Brunnen. Nachdem die Männer getrunken und auch die Pferde getränkt hatten, wurde der Marsch wieder aufgenommen. Im Verhalten des Hauptmannes trat eine Änderung ein, er selbst hob den Gefangenen aus dem Staube empor und setzte ihn hinter einen der Soldaten auf das Pferd.
Die Bewohner Nazareths gingen nach Hause, mit ihnen auch Josef und sein jugendlicher Gehilfe.
Hier begegneten sich zum ersten Male Judah und der Sohn Marias.
Neuntes Kapitel
Einige Meilen von Neapel liegt die Stadt Misenum mit dem gleichnamigen Vorgebirge, von dem aus man einen wundervollen Ausblick auf den Golf von Neapel hatte. Im Meer ankerte eine große römische Flotte, und die Segel blitzten in dem hellen Licht der Sonne.
Auf einem Wege, der von einem Tor der Stadtmauer nach einem breiten, sich mehrere Stadien weit in das Meer erstreckenden Damm führte, erschien an einem kühlen Septembermorgen eine Gesellschaft von zwanzig bis dreißig Personen. Die meisten waren Sklaven, während ihre Herren vorausgingen. Einer von ihnen, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der etwas kahlköpfig war, trug in seinem spärlichen Haar einen Lorbeerkranz. Er schien, da man ihm besondere Aufmerksamkeit erwies, der Mittelpunkt der Gesellschaft und der Gegenstand irgendeiner Feier zu sein. Alle waren mit weiten Togen aus weißem Wollenstoff bekleidet, die mit breitem Purpursaume besetzt waren.
»Nein, Quintus,« sagte einer zu dem Manne mit dem Kranze, »es ist nicht recht, daß Fortuna dich so schnell von uns hinwegnimmt. Erst gestern bist du vom Meere jenseits der Säulen des Herkules zurückgekehrt. Du hast dir ja nicht einmal den Landschritt wieder angewöhnt.« »Lästere Fortuna nicht,« meinte ein anderer, »sie ist weder blind noch launisch. Zu Antium, wo unser Arrius die Glücksgöttin befragt, antwortet sie ihm mit einem Nicken des Kopfes, und