Die Zeit Constantins des Großen. Jacob Burckhardt
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Allein der Mut zu dieser Arbeit entsinkt dem Verfasser, angesichts einer seit vielen Jahren erhobenen wissenschaftlichen Diskussion über die grössten Hauptfragen der alten germanischen Geschichte, in welche er auf keine Weise berufen ist hineinzureden. Die Resultate von Jakob Grimms »Geschichte der deutschen Sprache« würden nämlich nicht bloss die bis jetzt geltenden Annahmen über die Westgermanen mannigfach umgestalten, sondern auch die alten Donau- und Pontus-Völker, vor allem die Dacier und Geten, selbst die Scythen dem deutschen Stamm in näherm oder entfernterm Grade zuweisen, und insbesondere die Geten mit den spätern Goten identifizieren. Damit würde die ganze bisherige Ansicht über Macht und Ausdehnung der Germanen verändert und nicht minder die Urgeschichte der Slaven umgewandelt, welche als die Sarmaten des Altertums zwischen und unter jenen Germanenvölkern wohnend zu denken wären.
Wenn wir aber auch für das halbe Jahrhundert von Diocletian bis zum Tode Constantins die Sitze, Wanderungen und Mischungen wenigstens der Grenzvölker von den Niederlanden bis ans Schwarze Meer genau nachweisen könnten, so blieben doch als grosses Rätsel die innern Zustände übrig. Wer gibt uns Kunde von der Gärung und Neugestaltung des germanischen Wesens seit den Zeiten des Tacitus? Von den Ursachen der grossen Völkerbünde? Von dem plötzlichen Eroberungsdrang der Pontus-Goten im dritten Jahrhundert? Von ihrem nicht minder auffallenden Stillesitzen Die Ausnahme s. unten, S. 119f. in der ersten Hälfte des vierten? Wer leiht uns einen Maßstab für das weitere oder geringere Eindringen römischer Sitte in den germanischen Grenzländern? Ja, selbst von Sitte und Zustand der ins römische Reich aufgenommenen Germanen, sowohl der Soldaten als der Kolonen ist uns wenig bekannt. – So mag es denn auch genügen, wie oben die Kämpfe an der Rheingrenze, so auch die übrigen Kriege am Nordsaum des Reiches nur kurz zu erwähnen. Eine grosse Bedeutung können die letztern, nach der Einsilbigkeit der Quellen Die Stellen gesammelt u. a. bei Manso, Leben Constantins, und bei Clinton, Fasti Rom., passim. Vgl. auch Ammian. Marc. XXVIII, 1. zu schliessen, ohnedies kaum gehabt haben; fast alle Nebenumstände, sogar Ort und Stelle, bleiben völlig dunkel.
»Die Markomannen wurden aufs Haupt geschlagen« – so lautet die für lange Zeit einzige Notiz über jenes Volk (299), welches unter Marc Aurel als Zentrum eines grossen Bundes das Römerreich mit Untergang bedroht hatte.
Die Bastarnen und Carpen, wahrscheinlich Gotenvölker an der untern Donau, werden (294–295) durch Diocletian und Galerius besiegt, und die ganze Nation der Carpen auf römischem Boden angesiedelt, nachdem hunderttausend Bastarnen bereits unter Probus dasselbe Schicksal gehabt.
Eine wiederkehrende Sorge verursachten die Sarmaten, wahrscheinlich ein slavisches Donauvolk. Diocletian kämpfte zuerst allein (289), dann mit Galerius gegen sie (294) und versetzte auch von ihnen viele in das Reich. Spätere Einfälle strafte Constantin durch einen Feldzug (319), welcher ihrem König Rausimod das Leben kostete; gegen Ende seines Lebens aber nahm er (334), wie es heisst, nicht weniger als 300 000 Sarmaten in das Reich auf, nachdem dieselben durch einen Aufstand ihrer Sklaven (offenbar eines früher unterjochten Volkes) aus der Heimat waren vertrieben worden. Leider fehlen zur Beurteilung solcher massenhaften Aufnahmen ganzer Völker fast alle erklärenden Nebenumstände, so dass wir weder die Grenzen des Notwendigen und Freiwilligen, noch die militärische und ökonomische Berechnung kennen, welche die römischen Herrscher dabei leitete. Ein einziger erhaltener Vertrag würde grösseres Licht auf diese Verhältnisse werfen als alle Vermutungen, welche den verlorenen Hergang aus Analogien wieder aufbauen müssen Es genügt hier, auf ein Meisterwerk rekonstruierender und dabei gewissenhafter Kritik zu verweisen, wie Gaupp, »Die germanischen Ansiedelungen und Landesteilungen in den Prov. des röm. Westreiches«. – Die ganze seit der ersten Auflage unseres Buches so ausserordentlich geförderte, aber noch nicht zum Abschluss gelangte Forschung über die Germanen der Völkerwanderung darf bei der uns vorgeschriebenen Kürze übergangen werden, indem die Berührungen mit den Germanen gerade in der langen Regierung Constantins relativ unbedeutend gewesen sind. Über die Germanen innerhalb des Reiches, als Kolonen, Kriegsmannschaft, Beamte und Hofleute, eine treffliche zusammenfassende Darstellung bei Richter, Das weströmische Reich (Berlin 1865), Buch I, Kap. 3..
Auch ein Goteneinfall (323) wird erwähnt, wahrscheinlich von einer andern Art als die frühern und spätern, ja vielleicht nur die Tat eines einzelnen Stammes, der durch geheimnisvolle römische Einwirkung über die schlecht bewachte Grenze gelockt wurde. Constantin soll die Feinde durch seinen Anzug erschreckt und dann durch eine Niederlage zur Zurückgabe der mitgeschleppten Gefangenen genötigt haben. Der Zusammenhang mit dem Angriff gegen Licinius (wovon unten) wirft ein überaus zweideutiges Licht auf diesen ganzen Krieg. – Einige Jahre später (332) zieht Constantin mit seinem gleichnamigen Sohn auf Ansuchen der bedrängten Sarmaten in das Land der Goten, etwa in die Moldau und Walachei, wobei hunderttausend Menschen (wahrscheinlich beider Parteien) durch Hunger und Kälte sollen umgekommen sein; unter den Geiseln erhielt man auch den Sohn des Königs Ariarich. Darauf erfolgte die schon erwähnte Einmischung in die Sache der Sarmaten und deren Verpflanzung.
Es bleibt nun immer die Frage, von welchen Goten und Sarmaten jedesmal die Rede sei Was z. B. in dem bekannten Kap. 21 des Iornandes nirgends gesagt ist. – Dass Constantin in der Kurie zu Konstantinopel gotischen Königen Statuen errichtete, vgl. Richter, a. a. O., S. 230, nach Themistius.. Denn diese Namen umfassen ganze Reihen von ursprünglich einigen, aber längst geschiedenen Stämmen, deren Bildungsstand vielleicht alle Stufen und Nuancen darstellte, welche zwischen einer fast römischen, städtischen Kultur und wildem Jägerleben in der Mitte liegen. Die Rückschlüsse, zu welchen zum Beispiel das Dasein und die Beschaffenheit der gotischen Bibel des Ulfilas (bald nach Constantin) berechtigt, würden eine sehr hohe Idee von der Bildung der betreffenden Stämme schon in constantinischer Zeit erwecken, während andere Spuren barbarischer Roheit verraten. Die vorhandenen einzelnen Züge zu einem Bilde zu verarbeiten, überschreitet jedoch unsern Zweck und unsere Kräfte.
Auch dem Gegenbilde, den römischen oder römisch gewesenen Donaulanden Dacien (Siebenbürgen, Niederungarn, Moldau und Walachei), Pannonien (Oberungarn nebst den westlichen und südlichen Nachbargegenden) und Mösien (Serbien und Bulgarien) kann hier nicht die gebührende Beachtung zuteil werden, weil dem Verfasser die Übersicht der beträchtlichen neuern Entdeckungen in diesen Gegenden gänzlich fehlt. In der Zeit, um welche es sich hier handelt, waren dieselben eine Militärgrenze wie zum Teil jetzt, nur umgekehrt gegen den Norden, nicht gegen den Süden; seit Philipp dem Araber wollte der Waffenlärm hier gar nicht mehr verstummen Panegyr. III, (Genethl. Max.), c. 3 in quibus (provinciis) omnis vita militia est . . . Als Schule von Helden wurden sie schon oben bezeichnet., und Aurelian hatte Dacien, die gefährliche Eroberung Trajans, bereits den Goten soviel als preisgeben müssen. Vorher aber und in den weniger bedrohten Gegenden auch nachher muss hier eine sehr bedeutende römische Kultur geherrscht haben, deren Wirkungen auf diesem von der Völkerwanderung ganz durchwühlten Boden nicht zu vertilgen gewesen sind und zum Beispiel in der romanischen Sprache der Walachen noch kenntlich fortdauern. Städte wie Vindobona (Wien), Carnuntum (St. Petronell), Mursa (Essek), Taurunum (Semlin) und vor allem Sirmium (Mitrovicz), dann weiter abwärts Naïssus (Nissa), Sardica (Sophia), Nikopolis am Haemus und das ganze reiche Itinerarium der Donau überhaupt lassen auf ein Dasein schliessen, welches an Fülle und Wichtigkeit vielleicht die Rheingrenze bedeutend überholte. Wenn einst moderne Hände den slavischen und türkischen Schutt von den alten Donaustädten wegräumen dürfen, so wird auch das römische Leben jener Gegenden wieder zum Vorschein kommen. Die Weltgeschichte hätte eine andere Wendung nehmen können, wenn es in diesen Landen einem kulturfähigen Germanenvolk durch Mischung mit den kräftigen Einwohnern des nördlichen Illyricums gelungen wäre, ein mächtiges und dauerndes Reich zu gründen.
Am Schwarzen Meer endlich treffen die Germanen nebst andern Barbaren mit den griechischen, meist milesischen Kolonien Für das folgende s. Boeckh, Corpus inscr. Graec., vol.