Auferstehung. Лев Толстой
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»Wie wichtig das ist«, sagte sie auf irgend eine Bemerkung Kolossows hin und drückte dabei auf den gleich neben der Couchette angebrachten Knopf der Klingel.
Der Doktor erhob sich und ging, als eine im Hause gut bekannte Persönlichkeit, ohne ein Wort zu sagen, zum Zimmer hinaus. Die Fürstin begleitete ihn mit den Augen und führte das Gespräch weiter.
»Bitte Philipp, ziehen Sie die Gardine zu«, sagte sie, als auf ihr Klingeln der schöne Lakai eintrat, und wies mit den Augen auf die Gardine am Fenster.
»Nein, sagen Sie, was Sie wollen, es ist etwas Mystisches darin, und ohne Mystizismus giebt es keine Poesie«, sprach sie, indem sie mit dem einen ihrer schwarzen Augen geärgert die Manipulationen des Lakais, der die Gardine zuzog, verfolgte.
»Mystizismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mystizismus Prosa . . . « sagte sie mit einem trüben Lächeln, ohne den Blick von dem mit der Gardine beschäftigten Lakai zu wenden.
»Philipp, nicht diese Gardine . . . Am großen Fenster . . . sagte die Fürstin endlich mit dem Ausdrucke einer Märtyrerin. Sie schien sich offen bar selbst zu bemitleiden wegen der Anstrengung, die sie machen mußte, um diese Worte auszusprechen. Und sogleich führte sie sich zur Beruhigung mit der von Fingerringen bedeckten Hand eine aromatisch rauchende Pachitos an den Mund.
Der muskulöse, schöne Philipp mit dem breiten Brustkasten verneigte sich ein wenig, als ob er sich entschuldigte. Mit weichen Schritten ging er mit seinen starken Beinen, an denen die Waden hervor traten, über den Teppich zum andern Fenster und begann, die Fürstin aufmerksam betrachtend, die Gardine so zu ordnen, daß nicht ein Strahl mehr seine Herrin belästigen könnte. Aber er hatte es wieder nicht recht gemacht, und wieder mußte die gemarterte Fürstin ihr Gespräch über den Mystizismus unterbrechen, und den sie unbarmherzig quälenden, ungeschickten Philipp zurechtweisen. Für einen Augenblick flammte in den Augen Philipps ein Funke auf.
»Der Teufel mag daraus klug werden, was du willst! — Das meint er wahrscheinlich innerlich«, dachte Nechljudow, der das ganze Spiel beobachtet hatte. Aber der schöne und starke Philipp verbiß sogleich wieder seine Ungeduld und fuhr ruhig fort, das zu thun, was ihm die ausgemergelte, kraftlose, durch und durch verkünstelte Fürstin befahl.
»Gewiß, es steckt ein großes Stück Wahrheit in der Lehre Darwins«, sprach, auf dem niedrigen Lehnstuhl ausgestreckt, Kolossow, indem er die Fürstin mit schläfrigen Augen ansah. »Aber er überschreitet die Grenzen . . . «
»Glauben Sie an die Vererbungstheorie?« wandte sich die Fürstin an Nechljudow, der sie durch seine Schweigsamkeit deprimierte.
»An die Vererbungstheorie? Nein . . . « antwortete Nechljudow, nachdem er die Frage aufgefaßt hatte. Er war in diesem Augenblick ganz von sonderbaren Vorstellungen gefangen genommen, die in seiner Phantasie aufstiegen. Neben dem starken, schönen Philipp, den er sich als Modell dachte, stellte er sich den nackten Kolossow vor, mit seinem, einer Wassermelone gleichenden Bauch, dem Kahlkopf und den wie Peitschenschnüre herabhängenden muskellosen Armen. Ebenso stellten sich ihm unklar auch die jetzt mit Samt und Seide bedeckten Schultern der Fürstin so vor, wie sie in Wirklichkeit aussehen müßten. Aber dieses Bild war zu schrecklich, und er gab sich Mühe, es wieder zu bannen.
Die Fürstin maß ihn mit den Augen.
»Übrigens, Missy erwartet Sie«, sagte sie. »Gehen Sie doch zu ihr hinüber, sie wollte Ihnen etwas Neues von Schumann vorspielen . . . Sehr interessant . . . «
»Nichts wollte sie spielen. Zu was sie das alles doch lügt!« dachte Nechljudow, als er sich erhob und die durchscheinende, knöcherne, beringte Hand der Fürstin drückte.
Im Salon begegnete ihm Jekaterina Alexejewna und sing sogleich an zu sprechen:
»Ich sehe, mein Fürst, daß auf Sie die Pflichten eines Geschworenen etwas niederdrückend wirken . . . « sagte sie, wie immer, französisch.
»Ja, nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin heute nicht bei Laune und habe nicht das Recht, auch andere durch meinen Mißmut anzustecken«, antwortete Nechljudow.
»Warum sind Sie denn schlechter Laune?«
»Gestatten Sie mir, Sie damit nicht zu belästigen«, sagte er, nach seinem Hut suchend.
»Haben Sie es denn vergessen, daß gerade Sie es immer sagten, daß man die Wahrheit immer aussprechen müsse, und wie viel bittere Wahrheiten Sie uns damals gesagt haben. Warum wollen Sie es denn jetzt nicht thun? — Erinnerst du dich, Missy?« wandte sich Jekaterina Alexejewna an die zu ihnen herausgekommene Missy.
»Weil das damals Scherz war«, antwortete Nechljudow ernst. »Im Scherz geht so was, in der Wirklichkeit sind wir aber, das heißt, bin ich so schlecht, daß ich wenigstens die Wahrheit nicht aussprechen darf.«
»Korrigieren Sie sich nicht, und sagen Sie uns lieber, wieso wir denn so schlecht sind?« sagte Jekaterina Alexejewna, mit den Worten spielend, als ob sie den ernsten Ton Nechljudows nicht merkte.
»Nichts ist schlimmer, als seine üble Laune anerkennen«, meinte Missy. »Ich gestehe mir so etwas nie ein, und bin daher immer bei guter Stimmung. Nun, was ist dabei zu machen, gehen wir zu mir hinüber. Ich werde versuchen, Ihre mauvaise humeur zu vertreiben.«
Nechljudow wurde von einer Empfindung befallen, die dem Gefühl ähnlich sein mochte, das ein Pferd hat, welches man streicht und bürstet, um es zu zäumen und einzuspannen. Ihm war aber heute mehr als je unangenehm, zu ziehen. Er entschuldigte sich, daß er nach Hause müsse, und begann sich zu verabschieden. Missy behielt seine Hand länger als gewöhnlich in der ihrigen.
»Denken Sie immer daran«, sagte sie, »daß das, was Sie bewegt, auch Ihren Freunden nicht gleichgültig ist . . . Kommen Sie morgen?«
»Kaum . . . « sagte Nechljudow. Er errötete beschämt, er wußte nicht, ob um seinet- oder um ihretwillen, und ging eilig hinaus.
»Was ist denn das? Comme cela m’intrigue . . . « meinte Jekaterina Alexejewna, als Nechljudow gegangen war. »Ich muß es herausbekommen. Irgend eine affaire d’amour propre: il est très susceptible, notre cher Mitja.«
»Plutôt une affaire d’amour sale . . . wollte Missy sagen, die mit einem ganz veränderten, erloschenen Gesicht vor sich hin sah. Aber sie wollte sogar vor Jekaterina Alexejewna diesen calembour de mauvais ton nicht machen und sagte nur:
»Wir haben alle unsere guten und schlechten Tage . . . «
»Wird mich wirklich auch dieser betrügen?« dachte sie. »Nach alledem, was gewesen, würde das schlecht von ihm sein . . . «
Wenn Missy hätte erklären sollen, was sie unter den Worten »nach alledem, was gewesen« verstehe, würde sie nichts Bestimmtes haben sagen können. Und doch wußte sie ganz genau, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr erweckt, sondern ihr so gut wie ein Versprechen gegeben hatte. Es waren das alles zwar keine bestimmten Worte, sondern nur Blicke, Lächeln, Anspielungen, stumme Zugeständnisse gewesen. Aber dennoch hielt sie Nechljudow für den Ihrigen, und ihn zu verlieren, wäre ihr sehr schwer geworden.
Achtundzwanzigstes Kapitel.