Eine Geschichte aus zwei Städten. Charles Dickens

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Eine Geschichte aus zwei Städten - Charles Dickens

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hat, in Euch wachruft, so weinet. Und wenn Ihr aus der Nennung meines Namens, aus dem Namen meines noch lebenden Vaters und dem meiner heimgegangenen Mutter erkennt, ich habe kniefällig einen verehrten Vater um Verzeihung zu bitten, weil ich mich nicht für ihn tagtäglich abmühte und um seinetwillen nachts die bittersten Tränen vergoß, weil die Liebe meiner armen Mutter mir seinen schrecklichen Zustand verborgen hatte, so weinet, weinet darüber. Ja, weint um sie – und um mich! Meine guten Herren, Gott sei Dank! Ich fühle diese heiligen Tränen auf meinem Antlitz, und sein Schluchzen schlägt gegen mein Herz. Oh, seht – danket, danket Gott statt unserer.«

      Er war in ihre Arme und sein Haupt an ihre Brust gesunken – ein Anblick, so rührend und doch so schrecklich in dem Gedanken an die vorausgegangenen erschütternden Leiden, daß die beiden Zuschauer das Gesicht verhüllten.

      Die Stille der Dachkammer erlitt keine Störung, und seine wogende Brust, sein erschütterter Körper hatte längst die Ruhe gefunden, die, ein Sinnbild des Menschenlebens, jedem Sturm folgt. Endlich kamen sie heran, um Vater und Tochter von dem Boden aufzuheben. Er war allmählich hingesunken und lag in der Ohnmacht der Erschöpfung da; sie hatte sich zu ihm niedergeworfen, damit ihr Arm ihm zum Kissen, ihr wallendes Haar zum Schirm gegen das Licht dienen möge.

      »Man sollte ihn nicht weiter stören«, sagte sie, ihre Hand gegen Mr. Lorry erhebend, als sich dieser nach unterschiedlichen Schneuzversuchen zu ihnen niederbeugte, »sondern alles zur Abreise von Paris in einer Weise vorbereiten, daß man ihn von dieser Tür aus fortnehmen kann.«

      »Aber bedenkt doch. Wird er eine solche Reise machen können?« fragte Mr. Lorry.

      »Viel besser, denke ich, als wenn er länger in dieser für ihn so schrecklichen Stadt bleiben müßte.«

      »Es ist wahr«, sagte Defarge, der neben dem Ohnmächtigen niedergekniet war. »Auch sprechen außerdem alle Gründe dafür, Monsieur Manette aus Frankreich fortzuschaffen. Soll ich einen Wagen und Postpferde bestellen?«

      »Das ist ein Geschäft«, versetzte Mr. Lorry, der nicht lange brauchte, um sich wieder in sein methodisches Wesen zu finden, »und wo sich's um Geschäfte handelt, bin ich der Mann auf dem Platz.«

      »Dann seid so gut, uns jetzt allein zu lassen«, drängte Miß Manette. »Ihr seht, wie ruhig er geworden ist, und habt wohl nichts mehr zu fürchten, wenn ich bei ihm bleibe. Warum auch? Wenn ihr die Tür abschließen wollt, um uns vor Störung zu bewahren, so zweifle ich nicht, daß ihr bei eurer Rückkehr ihn ebenso finden werdet, wie ihr ihn verlaßt. Jedenfalls will ich für ihn Sorge tragen, bis ihr wiederkommt, und dann werden wir ihn fortnehmen können.«

      Sowohl Mr. Lorry als Defarge erhoben Einwände gegen diesen Vorschlag und wollten, daß wenigstens einer von ihnen bei ihr bleiben solle. Aber man hatte nicht nur einen Wagen und Pferde, sondern auch Reisepapiere zu besorgen. Die Zeit drängte, der Tag neigte sich zu Ende, und so kamen sie rasch zu der Übereinkunft, daß sie sich in die nötigen Geschäfte teilen und sich unverweilt an ihre Ausführung machen wollten.

      Als nun die Dunkelheit einbrach, legte die Tochter an der Seite ihres Vaters das Haupt auf den harten Boden und wachte bei ihm. Es wurde immer dunkler, und sie beide lagen ruhig da, bis ein Lichtstrahl durch die Wandrisse blinkte.

      Mr. Lorry und Monsieur Defarge hatten alles für die Reise vorbereitet und brachten außer einem Mantel und Schaltüchern auch Brot, Fleisch, Wein und heißen Kaffee mit. Monsieur Defarge stellte den Korb und die Laterne, die er bei sich hatte, auf die Schuhmacherbank – es war sonst außer dem Pritschenbett kein anderes Möbel mehr in der Kammer –, weckte den Gefangenen und half ihm unter Mr. Lorrys Beihilfe auf die Beine.

      Kein menschlicher Verstand vermochte in der scheuen, leeren Verwunderung des Gesichtes die Geheimnisse seines Geistes zu lesen. Wußte er wohl, was vorgegangen? Erinnerte er sich dessen, was gesprochen worden? Hatte er eine Vorstellung davon, daß er frei war? Diese Fragen war kein Scharfsinn zu lösen imstande. Sie versuchten, mit ihm zu reden. Aber er war so verwirrt und konnte sich so wenig ins Antworten hineinfinden, daß sein Geisteszustand sie erschreckte und sie miteinander übereinkamen, ihn vorläufig nicht weiter zu behelligen. Er fuhr gelegentlich in einer eigentümlich wirren Weise, die man nie zuvor an ihm wahrgenommen, mit den Händen gegen den rasch vorgeschobenen Kopf, schien aber doch schon den bloßen Ton von seiner Tochter Stimme gern zu hören; denn er wandte sich demselben zu, sooft sie sprach.

      In der unterwürfigen Weise eines Menschen, der durch langen Zwang zu gehorchen gewöhnt ist, aß und trank er, was man ihm vorsetzte, und legte den Mantel und die Schals um, die man ihm gab. Auch ließ er sichs gerne gefallen, daß seine Tochter ihren Arm in den seinigen legte. Er faßte dann ihre Hand mit den seinigen und hielt sie fest.

      Sie begannen hinabzusteigen. Monsieur Defarge ging mit der Laterne voran, und Mr. Lorry bildete die Nachhut. Sie hatten auf der langen Haupttreppe noch nicht viele Stufen zurückgelegt, als er haltmachte und das Dach und die Wände anstarrte.

      »Entsinnt Ihr Euch dieses Platzes, Vater? Ihr werdet Euch erinnern, daß Ihr hier heraufgekommen seid.«

      »Was habt Ihr gesagt?«

      Aber ehe sie ihre Frage wiederholen konnte, murmelte er eine Antwort, als ob es schon geschehen sei.

      »Erinnern? Nein, ich erinnere mich nicht. Es ist schon gar so lange her.«

      Es war klar, daß er nicht wußte, wie er aus seinem Gefängnis in dieses Haus gekommen war. Sie hörten ihn murmeln: »Hundertundfünf, Nordturm«, und wenn er umherschaute, sah er sich augenscheinlich nach den starken Festungsmauern um, die ihn so lange umschlossen hatten. Wie sie im Hof unten anlangten, änderte er instinktartig seinen Tritt in der Erwartung einer Zugbrücke, und als diese nicht kam und er dafür in der Straße draußen den harrenden Wagen sah, ließ er die Hand seiner Tochter fallen und fuhr wieder nach seinem Kopf.

      Es war kein Gedränge um die Tür. An keinem der vielen Fenster ließ sich ein Menschengesicht blicken, und nicht einmal zufällig kam jemand durch die Straße. Es herrschte eine unnatürliche Stille und Verödung. Nur eine Person war um den Weg – Madame Defarge, die strickend an dem Türpfosten lehnte und nichts sah.

      Der Gefangene war eingestiegen und seine Tochter ihm gefolgt. Als aber Mr. Lorry nachfolgen wollte, wurde er auf dem Tritt durch eine in kläglichem Ton vorgebrachte Frage angehalten, wo das Schuhmacherwerkzeug und die halbfertigen Schuhe seien, Madame Defarge rief ihrem Gatten zu, daß sie das Vermißte holen wolle, und hatte sich fortstrickend rasch im Dunkel des Hofes verloren, kam aber bald wieder zurück und langte Schuhe und Werkzeug in den Wagen hinein. Dann nahm sie ihren Posten wieder an der Tür, strickte und sah nichts.

      Defarge lud den Koffer auf und gab das Zeichen: »Nach der Barriere!« Der Postillion knallte mit der Peitsche, und sie rasselten unter den mattblinkenden Straßenlaternen dahin.

      Unter den Laternen hin – die in den besseren Straßen immer heller und in den schlechteren immer trüber brannten –, an den beleuchteten Läden, fröhlichen Menschenhaufen, lichtstrahlenden Kaffeehäusern und Theatertüren vorbei nach einem der Stadttore. Hier Soldaten mit Laternen vor dem Wachhause. »Eure Papiere, Reisende!« – »Bitte, Herr Offizier«, sagte Defarge, indem er ausstieg und den Mann ernst beiseite nahm, »dies sind die Papiere des weißhaarigen Herrn im Wagen. Man übergab sie mir mit ihm auf dem –«

      Er dämpfte seine Stimme. Es fand nun ein hastiges Durcheinander unter den militärischen Laternen statt, und eine derselben drang an einem uniformierten Arm in den Wagen, um in dem weißhaarigen Herrn einen Anblick zu enthüllen, dem man nicht jeden Tag oder jede Nacht begegnete.

      »Es ist gut. Vorwärts!« rief die Uniform.

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