Lourdes. Emile Zola
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Die Mutter beugte sich, als Rose stöhnte und die Augen öffnete, bestürzt und erblassend zu ihr nieder.
»Mein Kleinod, mein Schatz, was willst du? ... Willst du trinken?«
Das kleine Mädchen schloß seine leeren Augen wieder, deren mattes Blau man einen Augenblick hatte sehen können. Sie antwortete nicht einmal und lag in ihrem totenähnlichen Zustand zurückgesunken, in ihrem weißen Kleidchen ganz weiß da, eine letzte Koketterie der Mutter, die diese unnötige Ausgabe gemacht hatte in der Hoffnung, die Heilige Jungfrau würde der kleinen Kranken viel gnädiger sein, wenn sie gut und ganz weiß gekleidet wäre.
Nach einem kurzen Stillschweigen fing Frau Vincent das Gespräch von neuem an:
»Und Sie, Sie reisen gewiß Ihretwegen nach Lourdes? Man sieht es Ihnen an, daß Sie krank sind.«
Die Frau fuhr erschreckt zusammen und sank dann schmerzgebeugt in ihre Ecke zusammen, indem sie murmelte:
»Nein, nein! Ich bin nicht krank ... Wollte Gott, ich wäre krank! Ich würde dann weniger leiden.«
Sie hieß Frau Maze und trug in ihrem Herzen einen unstillbaren Kummer. Nachdem sie mit einem lebenslustigen jungen Manne eine Liebesheirat geschlossen hatte, sah sie sich nach Verlauf eines Jahres voll Glückseligkeit verlassen. Ihr Gatte, der in Bijouteriewaren reiste, beständig unterwegs war und viel Geld verdiente, war seit sechs Monaten verschwunden. Er lockte sie von einem Ende Frankreichs zum andern und hatte sogar liederliche Frauenzimmer bei sich. Und sie betete ihn an und litt darunter so furchtbar, daß sie sich der Religion in die Arme warf. Endlich hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Lourdes zu gehen, um die Heilige Jungfrau zu bitten, ihren Gatten zu bekehren und ihn zu ihr zurückzuführen.
Frau Vincent fühlte, ohne das richtige Verständnis dafür zu haben, dennoch den großen moralischen Schmerz, und beide fuhren fort, sich anzusehen, die verlassene Frau, die in ihrer Leidenschaft sich zu Tode grämte, und die Mutter, die daran zugrunde ging, daß sie ihr Kind sterben sah.
Jetzt mischte sich Pierre, der ebenso wie Marie zugehört hatte, in das Gespräch. Er wunderte sich, daß die Arbeiterin ihre kleine Kranke nicht hatte in das Hospital aufnehmen lassen. Die Gesellschaft von NotreDame de Salut war von den Augustinern von Mariä Himmelfahrt nach dem Kriege gegründet worden, um für das Wohl von Frankreich und für die Verteidigung der Kirche durch gemeinschaftliches Gebet und durch Wohltätigkeit zu arbeiten. Sie waren es, die die Bewegung der großen Wallfahrten und ganz besonders die nationale Wallfahrt ins Werk gesetzt und seit zwanzig Jahren ohne Unterlaß vergrößert hatten, die jährlich gegen Ende August nach Lourdes ging. So hatte sich eine kluge Einrichtung nach und nach vervollkommnet. Von überall flossen beträchtliche Almosen zusammen. In jedem Kirchspiel wurden Kranke angeworben, mit den Eisenbahngesellschaften Verträge abgeschlossen, ohne die tätige Hilfe der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt und die Gründung der Hospitalität von NotreDame de Salut zu rechnen. Eine weite Verbrüderung aller wohltätigen Gesellschaften wurde geschaffen, in der Männer und Frauen, meistenteils der vornehmen Welt angehörig, unter Aufsicht von Leitern der Wallfahrten die Kranken versorgten, trugen und über gute Ordnung wachten. Die Kranken mußten eine schriftliche Bitte um Aufnahme in das Hospital einreichen, wodurch sie sämtlicher Kosten für die Reise und den Aufenthalt überhoben waren. Man holte sie von ihrem Wohnort ab und brachte sie wieder dorthin zurück. Sie hatten also nur einige Lebensmittel auf die Reise mitzunehmen. Aber die bei weitem größte Anzahl hatte Empfehlungen von Geistlichen und wohltätigen Leuten, die bei den Eintragungen die notwendigen Identitätsnachweise und ärztlichen Zeugnisse prüften. Außerdem hatten die Kranken nur ihre Plätze einzunehmen und waren unter den brüderlich und schwesterlich sorgenden Händen der männlichen und weiblichen Helfer nichts als trauriges Objekt für Leiden und für Wunder.
»Aber, liebe Frau«, setzte Pierre ihr auseinander, »Sie hätten sich doch nur an den Geistlichen Ihres Kirchspiels zu wenden brauchen. Dieses arme Kind verdient volles Mitleid. Man würde es sofort aufgenommen haben.«
»Das wußte ich nicht, Herr Abbé.«
»Wie haben Sie es denn dann gemacht?«
»Ich habe mir an einem Orte ein Billett gekauft, den mir eine Nachbarin nannte, die die Zeitungen liest, Herr Abbé«
Sie sprach von den Fahrkarten, die man unter die Pilger, die bezahlen konnten, verteilte. Marie, die zuhörte, wurde von tiefem Mitleid ergriffen und schämte sich etwas. Ihr, der es nicht an Mitteln fehlte, war es mit Hilfe von Pierre gelungen, in das Hospital aufgenommen zu werden, während diese arme Mutter und das unglückliche Kind, nachdem sie ihre armseligen Ersparnisse hingegeben hatten, ohne einen Sou blieben.
Ein heftiger Stoß des Wagens entriß ihr einen Schrei.
»O Vater, ich bitte dich, richte mich etwas in die Höhe! Ich kann nicht länger so auf dem Rücken liegen bleiben.«
Als Herr von Guersaint sie aufgerichtet hatte, seufzte sie tief auf. Man war in Etampes, anderthalb Stunden von Paris entfernt, und schon fing bei dem glühenden Sonnenbrande, dem Staub und dem Lärm die Abspannung an, sich geltend zu machen. Frau von Jonquière hatte sich erhoben, um das junge Mädchen über die Scheidewand hinweg durch gute Worte zu ermutigen. Auch Schwester Hyacinthe stand wieder auf und klatschte fröhlich in die Hände, um sich von einem Ende des Wagens bis zum andern Gehör zu verschaffen.
»Auf, auf! Denken wir nicht an unsere kleinen Schmerzen! Wir wollen beten und singen, die Heilige Jungfrau wird mit uns sein!«
Sie fing den Rosenkranz an, dann die Gebete von NotreDame de Lourdes, und alle Kranken und Pilger folgten ihrem Beispiele. Es war der erste Rosenkranz, die fünf freudigen Mysterien, die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Christi, die Reinigung Maria und der wiedergefundene Jesus. Dann stimmten alle den Choral: »Betrachten wir den himmlischen Erzengel«, an. Die Stimmen vermischten sich mit dem Rasseln der Räder. Man hörte nur das mächtige Rauschen dieses ohne Unterlaß rollenden Stromes menschlicher Stimmen, das im Hintergrunde des Wagens erstickte.
Obgleich darin geübt, kam Herr von Guersaint doch niemals zum Schlusse eines Chorals. Bald stand er auf, bald setzte er sich wieder. Schließlich stützte er sich mit den Ellenbogen auf die Zwischenwand und unterhielt sich halblaut mit einem Kranken, der mit dem Rücken gegen diese Zwischenwand in der nächsten Abteilung saß. Herr Sabathier war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, von untersetzter Gestalt, mit einem guten, dicken Gesicht und einem vollständigen Kahlkopfe. Seit fünfzehn Jahren war er gelähmt, Schmerzen litt er nur zuweilen, aber seine Beine waren vollständig gelähmt, und seine Frau, die ihn begleitete, legte sie wie tote Beine von einer Stelle zur andern, wenn sie ihm schließlich so schwer wurden wie Bleiklumpen.
»Ja, mein Herr, wie Sie mich sehen, bin ich ehemaliger Professor der fünften Klasse am Lyceum Charlemagne. Anfangs glaubte ich, es wäre einfach Hüftweh. Dann aber hatte ich brennende Schmerzen, wissen Sie, ungefähr so, als bekäme ich Stiche mit glühenden Degen in die Muskeln. Seit beinahe zehn Jahren bin ich allmählich ganz davon ergriffen worden. Ich habe alle möglichen Ärzte konsultiert, ich habe alle nur erdenklichen Bäder besucht, und jetzt leide ich allerdings weniger, aber ich kann mich nicht in meinem Stuhle rühren. Da bin ich denn wieder zu Gott zurückgeführt worden durch den Gedanken, daß ich zu unglücklich wäre und daß unsere liebe Frau von Lourdes nichts anderes tun könne, als Mitleid mit mir haben.«
Pierre hatte, von Teilnahme ergriffen, sich auch auf die Zwischenwand gestützt und hörte zu.
»Nicht wahr, Herr Abbé, das Leiden ist